Krach um die Mitte

Der Seeheimer Kreis der SPD debattierte über die Mehrheitsfähigkeit der Partei  ■ Aus Bonn Andrea Dernbach

Wenn in der SPD derzeit Diskussionen stattfinden, dann nicht – wie noch vor ein paar Jahren – in linken Zirkeln. Der einzige funktionsfähige Debattierklub der Sozialdemokratie scheint zur Zeit der Seeheimer Kreis zu sein, jene Runde von Traditionssozis und -gewerkschaftern, die das unschöne Etikett „rechts“ meiden und sich lieber als „linke Mitte heute“ bezeichnen.

Ein Papier der Seeheimer sorgte kürzlich für Aufregung um die künftige Außenpolitik der SPD. Und es war bei einer ihrer Tagungen in Tutzing, im November, als Parteichef Rudolf Scharping den angeblichen Sozialmißbrauch als Thema für seine Partei entdeckte. Während die versprengte Parteilinke kaum noch öffentlich beachtet wird, sind Treffen der Seeheimer immer wieder für ein paar Schlagzeilen gut.

In dieser Woche nun trafen sich die Seeheimer erneut zum großen Palaver um den künftigen Kurs und zur Abrechnung mit der Parteispitze: „Chancen zur Mehrheitsfähigkeit der Volkspartei SPD“ hieß die Veranstaltung. Die Auseinandersetzung um die Gründe der Niederlage bei der Bundestagswahl im Oktober sollte damit weitergeführt werden, eine Debatte, die nach Ansicht der Seeheimer „teilweise stehengeblieben“ ist.

SPD-Bundesgeschäftsführer Günter Verheugen wich den erwarteten Prügeln gleich zu Beginn durch viel Bußfertigkeit aus: Ja, es stimme, die Parteiführung habe im Wahlkampf Fehler gemacht. Ja, es habe im Wahljahr die schwarze Serie von Pannen zwischen Ende März bis Mitte Juni gegeben. Und Verheugen nennt auch gleich die Stichworte: Die Wahl von Roman Herzog, dem Kandidaten des Kanzlers, zum Bundespräsidenten, der die SPD nur ohnmächtig zusah, ohne ihre Mittel einzusetzen, sie zu verhindern. Dann die Europawahl, die die Partei nicht als Warnzeichen für die Bundestagswahl begriff. Dann Abstimmungspannen im Bundestag und die Diskussion um das Tempolimit.

Beim Thema Sachsen-Anhalt laviert Verheugen. Die rot-grüne Koalition dort, mit dem Segen der PDS installiert, ist den Seeheimern ein besonders böser Dorn im Auge; in ihrer Denkschrift nennen sie die Koalition einen „Kardinalfehler“. Der Bundesgeschäftsführer verschanzt sich hinter der Demoskopie: „Infas sagt, die Entscheidung dort für die Regierungsbildung war richtig, um unsere Anhänger zu mobilisieren.“ Andererseits habe die CDU damit leider ihr Thema für den Wahlkampf gefunden: Die Rote-Socken-Kampagne, die davon lebte, die Sozis als Hampelmänner und -frauen von Postkommunisten, der PDS, vorzuführen.

Es wird laut und schrill in der hessischen Landesvertretung während vieler Äußerungen des Bundesgeschäftsführers, und es ist leicht zu merken, daß es hier nicht nur um Programmgefechte geht, sondern um unterschiedliche Lebensgefühle – und wohl auch um das Gefühl, die „Mutter SPD“ liebe ihre bravsten Kinder nicht genug. Dieter Schanz, direkt gewählter Bundestagsabgeordneter aus Oberhausen, klagt an: „Ihr braucht offensichtlich nicht die Erfahrungen derer, die Wahlsiege erkämpfen, sondern derjenigen, die Wahlen verlieren und sie nachher durch hochintelligente Wahlanalysen rechtfertigen.“

Damit ist die Parteilinke Heidi Wieczorek-Zeul und ihr Bezirk Hessen Süd gemeint – stellvertretend für die unter den Seeheimern gründlich verhaßte SPD der „Oberstudienräte und Rechtsanwälte“ (so der Gießener MdB und Oberstudiendirektor a. D. Erwin Horn). Verheugen pariert den Angriff und löst damit beinahe einen Tumult aus: Er lasse sich nicht von „Besitzern fabelhafter Wahlkreise“ belehren und empfehle den Ruhr-Genossen, einmal seinen eigenen schwierigen Claim, das bayerische Kulmbach, zu beackern. Danach kommt Verheugen erst einmal nicht mehr zu Wort; der Unnaer Manfred Schult erklärt später, er fühle sich „durch die Äußerungen des Parteimitgliedes Verheugen verhöhnt, ja verachtet“. Ohne daß es einer im Saal so richtig zu merken scheint – in einem Punkt sind sich die Streithähne an jenem Abend einig: Die schiere Existenz der Grünen haben offensichtlich weder die Parteiführung noch die Seeheimer bisher verdaut – und das etwa siebzehn Jahre nach deren ersten Auftritten in der bundesdeutschen Politik.