Rauschzustand

■ Die NDR-Hörspielmatinee war diesmal anders – sie zeigte auch einen Stummfilm

Die Leinwand bleibt schwarz, ein Wecker tickt unerbittlich seinen Rhythmus. Dies war der Beginn der sonntäglichen Hörspielmatinee im Abaton, bei der Pierre Henrys Klangkunstwerk La ville/Die Stadt (1984) Walther Ruttmanns berühmtem Stummfilm Berlin, Die Sinfonie der Großstadt unterlegt wurde.

Ruttmann, der mit seinen Experimental- und Montagefilmen zur filmischen Avantgarde der 20er Jahre gehörte, schildert einen Frühlingstag in Berlin vom Morgengrauen bis in die Nacht: Ankommende und abfahrende Züge sind zu sehen, aber auch Pferdedroschken, Omnibusse, Trambahnen und Fußgänger. Neben der Fabriksphäre wird auch Einblick in die Postboten-, Gemüsehändler- und Kinderspielwelt gegeben, Bettler, Leierkasten- und Edelmann gehen ihren Geschäften nach.

Dabei ging es Ruttmann, der im „Dritten Reich“ schließlich an Werbe-, Industrie- und Propagandafilmen der Nazis (Metall des Himmels) mitwirkte, weniger um eine dokumentarische Bestandsaufnahme als um ästhetische Eindrücke, mit denen er den Zuschauer in einen Rauschzustand versetzen wollte – durch schnelle Schnittfolge, ungewöhnliche Kamerafahrten und durch die Parallelisierung von Bewegungsabläufen.

Fraglich bleibt, ob der Film, der ursprünglich eine eigene Musikbegleitung hatte (Edmund Meisel), durch die im wesentlichen asynchrone Hinzufügung von Henrys Klangwerk gewonnen hat. Henry hat seine in 30 Sequenzen gegliederte Komposition zwar in neuer Abfolge auf den Film verteilt, aber nicht unmittelbar für ihn geschaffen. Im Sinne eines eigenständigen akustischen Stadtporträts hat Henry in Paris Großstadtgeräusche aufgenommen und elektronisch verfremdet. Interessant wäre ein Vergleich mit der Originalmusik gewesen, auf die der Veranstalter leider nicht näher einging.

Christoph Schlee