Rathenow runterzumachen ist bescheuert

■ Lutz Rathenow stellte sein neues Buch „Sisyphos“ vor

Das Leben von Lutz Rathenow war kein Zuckerschlecken, „die Kindheit eine Höhle, / Farben und Schläge und der Geruch / von Samen dringen ein. Feuer / feuert dich an. Feuchtigkeit“ ('Biographie‘), die Jugend im Unrechtsstaat schon bedrängt. „Die Spitzel tanzen / auf der Disco und quälen sich / gewagte Verse ab.“ Froh schafft dagegen der Dissident. Sein „Mund ist unhaltbar, solange es dem Träger mundet“. Er begegnet der Macht mit Phantasie. „Die Lebensbombe dort tickt / zackig keck“ (Jenaer Elegien), „geliftete Seelen / entherzte Wahrheiten“ kommen vorbei, und „die Pointe verröchelt im Schlaf“.

Seit zwei Jahren bedrängt mich der Kollege einer Leipziger Stadtzeitung, die Schriften des Promidissidenten „runterzumachen“. Doch irgendwie ist mir das zu billig. Zum einen ist Rathenow kein Einzelfall – rund 85 Prozent aller deutschen Lyriker schreiben ähnlich hausbacken – zum anderen ist die Zeit längst vorbei, in der die bundesdeutsche Pressevielfalt tagtäglich teils identische Texte über die dickste Akte der Welt (10.000 Seiten) veröffentlichte. Nur noch selten sitzt der Rand-Hallenser am anderen Ende des Radios, wenn man's einschaltet, um im Goethegestus irgendwelche Gedichte oder „Satiren“ vorzutragen.

Befreundete Organe aller Medien berichten zwar, daß Tag für Tag immer noch wichtige Rathenow-Texte auf ihrem Schreibtisch liegen würden, im letzten „Jahrbuch der Erotik“ fand sich gar Erotisches vom Unbequemen, doch eigentlich hört man nur noch wenig von ihm. Vielleicht wird er von Stasi-Redakteuren boykottiert, vielleicht les' ich auch nur die falschen Zeitungen, vielleicht ist Rathenow in Wirklichkeit ein Loser- Star; jedenfalls vermißte ich ihn plötzlich und freute mich sehr, als ich hörte, daß er in der „Universitätsbuchhandlung“ sein neues Buch „Sisyphos“ vorstellen würde. Rathenow runterzumachen ist bescheuert; also:

100 fröhliche Protestanten

100 fröhliche Protestanten und Bärbel Bohley waren gekommen, dem gelassen-urst-schauen Bartträger zuzuhören, den die Nazis von der Stasi vergeblich und zehn Jahre versuchten zu zerbrechen. Ein paar Vieren in Betragen schmerzten zwar, doch auch schon in der Schule ließ sich Rathenow nicht den aufrechten Gang verbieten. Freundlich war er auch zu denen, die ihn später verleugneten – dem Dichter Papenfuß lieh er zum Beispiel mal zwanzig Mark. Er widerspricht allen dummen Vorurteilen, die über DDR-Literaten so grassieren. Provinzialität ist seine Sache nicht; statt dessen fährt er nach Japan („eine andere Kultur“) und schreibt zuweilen sogar in Englisch: „It is time to dreaming, / my first poem in English.“

Der unbequeme Szene-Autor erkennt auch die Fallen des gegenwärtigen Systems: „Wer konsumiert, rebelliert nicht.“ Seine selbstkritische Denke setzt auch die kleinen Dinge des Alltags in ihr Recht. Man erkennt sich wieder. Seine Helden heißen wie du und ich: „Pierre“, „Manfred“ oder „Helene“. Am liebsten „zerhäckselt“ er „Käse und Schnittlauch“.

Vom Scheincharakter der Waren und Körper läßt er sich nicht täuschen: „Sie verfügte zwar über eine ansehnliche Oberweite. In ihrem Kopf schien sich das aber nicht niederzuschlagen.“ Sensibel vermag sich Rathenow auch in andere „hineinzudenken“. Einmal übernimmt er die Rolle eines mordlustigen Grenzers; ein andres Mal – in Joycescher Tradition – die der kecken Redakteurin einer Frauenzeitschrift. Eine Zuschauerin fand das ganz toll und schlug vor, er solle sich mal als Frau verkleiden.

Bislang hatte sich Rathenow immer standhaft „gegen die Versuche von Verlegern und der Stasi“ gewehrt, ihn einen Roman schreiben zu lassen. Demnächst will er sich vielleicht doch dranmachen.

Faszination des Vollblöden

„Wie ernsthafte Menschen so schreiben können; das fasziniert mich“, meinte ein befreundeter Soziologe, der besonders gern auch Texte von Cora Stephan liest. Mit seiner Begeisterung fürs Vollblöde steht er nicht allein. Tags zuvor in der „Volksbühne“ versuchten sich auch Kuttner, Peter Wawerzinek und andere daran. Gegen die Schlußstrichmentaliät präsentierten sie DDR-Lyrik aus den sechziger und siebziger Jahren. Berücksichtigt wurde auch die Hofdichtung späterer Dissidenten. Kundschafter versichern zwar, daß es keine „Schenkelklopfveranstaltung“ gewesen, sondern eher „liebevoll-ironisch“ und „nostalgisch“ zugegangen wäre.

Trotzdem ist es natürlich blöde, die Rathenows mit ihrer Jugendlyrik diskreditieren zu wollen. Die machen sich ja auch ständig mit neuen Texten lächerlich. Produktiver als die ironische Verwerfung der Dinge von einst wäre das liebevolle Zusammenführen dessen, was zusammengehört. Lutz Rathenow sollte zum Beispiel Cora Stephan heiraten und Antje Vollmer die Trauung übernehmen. Detlef Kuhlbrodt