Manchmal hallt ein böses Kichern nach

■ Kein vordergründiges Skandalisieren: Uraufführung von Werner Schwabs „Eskalation ordinär“, inszeniert von Karin Beier im Hamburger Schauspielhaus

Was unterscheidet den Menschen, genaugenommen, von einer Wurst? Nicht viel, fand Werner Schwab. Eine dünne Haut außenrum, und innen hineingepreßt jede Menge Unrat, Dreck und dubiose Flüssigkeiten. Ein „Fleischstrudelkörper“, gefüllt mit „Straßenköterkot, Erbrochenem, einem eigenmenschlichen Exkrement oder einem Senf“. Helmut Brennwert, ein arbeitsloser Sparkassenangestellter, ist so ein Wurstmensch. Die Schultern verkrampft, die Haare gescheitelt, der Anzug spannt, seine Anverlobte (Catrin Striebeck) nörgelt an ihm herum: So steht er am Würstelstand und frißt eine Riesenwurst in sich hinein. „Noch mehr scharfen Senf auf mich hinauf“, grunzt er zwischen zwei Bissen, und dann drückt ihm der Wurstmann Nieroster (Wolf Aniol) einen hellbraunen Strahl auf sein Wurstende. Der leitende Sparkassenangestellte stürzt hinein, stößt Helmut Brennwert zur Seite – und der bekleckert sich von oben bis unten mit Senf.

So wird der Mann zum Würstchen, und die „Eskalation ordinär“ nimmt ihren Lauf – der Leidensweg des Helmut Brennwert, aufgezeichnet in sieben Stationen, das letzte Stück aus dem Nachlaß des in der Silvesternacht 1993/94 plötzlich verstorbenen Skandal-Grazers Werner Schwab. Vor den Augen und zum Vergnügen seiner Anverlobten wird Helmut Brennwert gedemütigt, getreten und mißbraucht. Am heftigsten von Nieroster, der Brennwert quält als Polizist und Cafétier, als Showmaster und Zeitungskioskinhaber. Aus seinem weißgeschminkten Gesicht sticht ein schwarzumrandetes Auge hervor, das „öffentliche Auge“. Mal zwingt Nieroster Herrn Brennwert zum öffentlichen Onanieren, mal zum Spülwassersaufen, mal nimmt er ihn von hinten. Später treten alle zu – außer dem leitenden Bankangestellten und der Anverlobten auch noch ein graues, altes Ehepaar, das einen Hund hinter sich herzieht, der auf ein Skateboard geschraubt ist und sich sonst darauf beschränkt, Leberkäs zu mümmeln. Brennwert – ein Stück Dreck in der Sparkassenwelt. Zwischen seinen Leidensstationen taumelt er über die kreisrunde, aseptisch- glatte Bühne, verfolgt von einem Scheinwerfer. Er fällt und kriecht, sucht eine Wand, um sich wieder aufzurichten – und tropft ab, denn die halbrunden Metallwände in Achim Römers Bühnenbild bewegen sich, schieben sich von ihm weg. Die Welt: aalglatt. Die einzige Spur, die Brennwert in ihr hinterläßt, ist ein hellbrauner Fleck an der Wand. Andreas Patton als Helmut Brennwert zeigt einen hilflosen Tölpel mit treuen Augen und eifrig-servilen Gesten. Je länger seine Qual andauert, desto mehr tritt Brennwerts Wurstinneres nach außen: Senf, Erde, Spülwasser, Sperma vermischen sich auf dem türkisblauen Anzug zu einer großen braunen Schleimspur. Nun hatte der böse Bube Werner Schwab sicher alles Mögliche im Sinn – bloß nicht einen brav ausgepinselten Arbeitslosen-Angestellten-Kreuzweg im Stile realistischen Volkstheaters. Seine Welt- Sparkasse ist eine Chiffre, seine Kunstsprache ist selbst eine bis zum Platzen mit Dreck vollgestopfte Wurst. „Ausscheidungsgesäßtasche“ – „Körpermistkübel“ – „kinderförmiger Scheißdreck“ – „die Zyste auf deinem verfaulenden Hodensack“ – in seinen Begriffen waltet kindliche Sprachmagie: Voller Angstlust preßt sie schlimme Wörter zu noch schlimmeren Wortgetümen zusammen. Manchmal hallt den Wortgebilden noch ein böses Kichern nach. Tod, Tod, Tod, ich schrei so lange, bis du kommst.

Verwesungsprozesse haben den Dichter lebhaft interessiert, in einem Korb hat er Tierknochen gesammelt, die er in den österreichischen Wäldern gefunden hat. Der Knochenkorb taucht auch in „Eskalation ordinär“ auf – in einem Nebensatz, als Brennwerts Anverlobte ihm die Wohnung aufkündigt – und auch die Knochensammlung auf die Straße setzt. Herr Brennwert, ein Spiegelbild seines Autors? Karin Beiers kluge Regie verstellt jedenfalls den Blick auf diese Frage nicht durch vordergründiges Skandalisieren.

Am Schluß sitzt Helmut Brennwert nackt auf dem Boden, ein Häuflein Elend in einem Haufen Erde, ein wahrer Schmerzensmann. Der Wert brennt nicht mehr, sagt Herr Brennwert, und: Es ist ein Skandal. Dann gießt er Flüssigkeit aus einem Blechkanister über sich und hält ein Feuerzeug an seinen wertlosen Körper. Die Wände schließen sich vor ihm. Keinen Wert, der Mann. Nicht einmal einen Brennwert. Armes Würstchen. Kai Voigtländer

Weitere Aufführungen: 21., 22. und 24. 3. im Malersaal des Deutschen Schauspielhauses, Hamburg