Im Rausch der Tiefsee

Japan und die USA starten Expeditionen in die unbekannten Tiefen der Weltmeere  ■ Von Matthias Selbach

Während die Raumfahrtprogramme der USA und Rußlands öffentliche Aufmerksamkeit erregen, werden im Bereich der Meeresforschung mehr oder weniger unbemerkt die Weichen gestellt: Japan, die USA und Europa beginnen den Wettlauf, die Geheimnisse der Tiefsee zu ergründen. Die schwarzen Tiefen der Ozeane sind paradoxerweise auch im Zeitalter der Raumfahrt immer noch weitgehend unerforscht. Die meisten U-Boote erreichen nur wenige hundert Meter Tiefe, lediglich ein paar Forschungsschiffe können bis zu 6.000 Meter vorstoßen. Eine Fläche von der Größe der USA liegt damit außerhalb der Reichweite.

Besonders ehrgeizig sind die Programme Japans und der USA. Wie das Wissenschaftsmagazin New Scientist berichtet, wollen sie das Challenger-Tief im Marianengraben bezwingen. Diese etwa 2.000 km östlich der Philippinen gelegene Unterwasserschlucht ist mit 11.000 Metern die tiefste Stelle in den Weltmeeren. Schon 1960 gelang es dem Schweizer Ozeanographen Jacques Piccard und dem Navy-Offizier Don Walsh, mit dem von Piccard konstruierten U-Boot Trieste zu diesem Punkt hinabzutauchen. Nach dieser technischen Meisterleistung war aber nie wieder ein Mensch dort unten. Der Platz lädt auch nicht gerade zum Verweilen ein: Die riesige Wasserschicht schluckt jedes Licht, mit wenig mehr als null Grad Celsius ist es empfindlich kalt, und dem enormen Druck von mehr als einer Tonne pro Quadratzentimeter sind nur wenige Materialien gewachsen. Die Japaner verfügen mit ihrem Forschungs-U-Boot Kaiko zur Zeit über das einzige Gefährt, das diese Tiefe bezwingen könnte. Allerdings ist es unbemannt: ein 12 Kilometer langes Kabel verbindet Kaiko mit dem Mutterschiff. Diese Technik wirkt umständlich, aber Radiowellen, wie man sie zur Fernsteuerung von Spielzeugmodellen benutzt, können die dicke Wasserschicht nicht durchdringen. Um nach dem Tauchgang wieder zur Oberfläche zurückzukehren, wirft Kaiko einfach Ballast ab. Ein praktischer Nachteil dabei: Wenn der Ballast einmal abgeworfen ist, dann taucht Kaiko zwangsläufig bis zur Oberfläche auf.

In Amerika setzt man auf eine neue Methode: Graham Hawkes, Mitbegründer der Ocean Exploration Group in Kalifornien, will zum Grund hinabfliegen. Seine „Deep Flight“ genannte Konstruktion gleicht einer Rakete mit Flügeln. Die Kraft eines batteriegetriebenen Motors soll das Gefährt durch das Wasser gleiten lassen. Ähnlich, wie die Flügel ein Flugzeug in die Lüfte heben können, will sich Hawkes mit umgedrehten Flügeln in die Tiefe ziehen lassen. „Unser System ist eher ein Flugzeug als ein Ballon“, sagt Hawkes im Vergleich zum japanischen Ballast-Prinzip. Deep Flight bietet einem Piloten Platz, der in der schmalen Röhre liegt und durch eine Glaskuppel seine Umgebung betrachten kann. Ein Prototyp hat sich bis 1.000 Meter Tiefe schon bewährt, jetzt nimmt Hawkes den Marianengraben in Angriff. Ende 1996 soll es soweit sein, vorausgesetzt die Finanzierung kann gesichert werden.

In Deutschland versucht man dagegen nicht, ein eigenes U-Boot zu konstruieren – man setzt mehr auf internationale Zusammenarbeit. Dieter Fütterer, Leiter der Sektion Geologie und Stellvertretender Direktor am Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven: „Wir brauchen eine gemeinsame Technologie. Es ist so wie in der Raumfahrt: Zuerst versucht man, auf eigene Faust zu forschen.“ Fütterer meint, bei dem immensen Kostenaufwand gehe es im Endeffekt aber nicht ohne Zusammenarbeit der „Scientific community“. Die deutsche Rolle bei dieser Zusammenarbeit ist die Entwicklung von Sonden, die entweder gekoppelt an Tauchboote anderer Staaten oder aber eigenständig Meßdaten vom Meeresgrund liefern können.

Die Hoffnungen, die in die Ergebnisse der Tiefseeforschung gesetzt werden, sind groß. Klimatologen interssieren sich zum Beispiel besonders für den Kreislauf des Treibhausgases CO2: 95 Prozent des weltweit zirkulierenden Kohlenstoffs sind in den Weltmeeren enthalten, der überwiegende Teil davon wird langfristig im Sediment der Tiefsee gespeichert. Die Schichtung der Tiefseeböden spiegelt daher das Klima früherer Zeiten wider. So lassen sich Klimamodelle entwickeln, welche die Prognose der zukünftigen Klimaentwicklung verbessern können.

Biologen suchen am Grund der Meere nach den Spuren des Lebens. Walsh hatte angeblich schon bei der Trieste-Expedition einen Fisch gesehen. Inzwischen ist bewiesen: Auch den Grund der Ozeane hat das Leben schon lange erobert. Ausgerechnet an den extremsten Stellen des Meeresgrundes tummeln sich die meisten Geschöpfe: Wo durch vulkanische Tätigkeit kochend heißes Wasser aus dem Grund des Meeres schießt, haben sich wahre Oasen des Lebens gebildet. Bakterien können den Schwefelwasserstoff dieser als schwarze Raucher bezeichneten Quellen nutzen, um Energie zu gewinnen. Damit legen sie den Grundstein für ein in sich geschlossenes Ökosystem. Würmer und Muscheln werden von den Bakterien ernährt, und sie sind wiederum Futter für Krebse und Fische.

Die extremen Bedingungen in der Tiefsee haben zu zahlreichen Spezialanpassungen der Organismen geführt, die sie auch für die Industrie interessant machen. Schon im seichten Wasser hat man Tiere gefunden, die wahre Fundgruben für pharmakologisch aktive Stoffe sind. In Seescheiden zum Beispiel hat man Hunderte von Substanzen entdeckt, die dem Menschen gegen Viren, Pilze und vielleicht auch gegen Krebs helfen können. In der Tiefsee gibt es viele bisher noch unerforschte exotische Tiere, Pharmakologen hoffen daher auch auf neue Wirkstoffe zur Behandlung von Krankheiten.

Nach einem Fehlversuch mit Kaiko im Februar vergangenen Jahres sind die Japaner jetzt wieder bereit, den Sprung in die Tiefe zu wagen. Man darf darauf gespannt sein, was sie ans Tageslicht bringen werden.