Giftgas in der Tokioter U-Bahn

■ Sechs Tote und mehr als 3.000 Verletzte / Tödliches Sarin von Unbekannten plaziert

Tokio (taz) – Ein fünffacher, minutiös geplanter Giftgasanschlag in der Tokioter U-Bahn forderte gestern in der japanischen Hauptstadt sechs Menschenleben und ungezählte Verletzte. Bis zum Abend hatten sich über dreitausend Tokioter BürgerInnen in ärztliche Behandlung begeben müssen, die alle Opfer des von den Attentätern in fünf U-Bahn-Wagen ausgelegten Nervengases Sarin waren. Annähernd achthundert Menschen mußten die Nacht im Krankenhaus verbringen: Einige von ihnen schwebten weiterhin in Lebensgefahr, andere werden voraussichtlich nie wieder vollständig gesund werden.

0,5 Milligramm des einst von Nazi-Forschern entdeckten Teufelszeugs Sarin reichen aus, um einen Menschen zu töten. Nach Angaben der Vereinten Nationen hatte bisher nur der Irak unter Saddam Hussein das Giftgas im Kampf gegen den Iran und kurdische Dörfer eingesetzt.

In Tokio waren gestern bis in die Nacht für den Chemiekrieg trainierte Sondertruppen im Einsatz, die die betroffenen Züge und U-Bahn-Stationen im Zentrum der Stadt von toxischen Substanzen freipumpten. Einen vergleichbaren Fall hat es bisher nicht gegeben. Viele der Opfer erfuhren erst durch die Berichterstattung in Radio und Fernsehen, welchen Gefahren sie am Morgen ausgesetzt gewesen waren. Dabei planten die Attentäter ihre Tat genau zu jener Zeit, um kurz nach acht Uhr morgens, während der in den Tokioter U-Bahnen die Zahl der Fahrgäste auf bis zu 250 Prozent der normalen Beförderungskapazität steigt.

Viele Tokioter reagierten verschreckt und ängstlich. Ihnen hatte die 30-Millionen-Metropole bisher nicht nur als die größte, sondern auch als die sicherste Stadt der Welt gegolten. Seit dem letzten großen terroristischen Attentat sind zwanzig Jahre vergangen. Die Regierung versprach ein hartes Durchgreifen. An allen Tokioter Bahnhöfen wurden die Kontrollen verschärft und nach verdächtigen Objekten gesucht, die jenen gewöhnlichen Plastikbehältern und Flaschen ähnelten, welche die Täter am Morgen zur Tarnung des Gifts als Behälter benutzt hatten.

Die Behörden vermuten politische Attentäter hinter den Anschlägen. Im üblichen Extremistenspektrum, zu dem die fanatischen Kaiseranhänger ebenso wie einige ultralinke Gruppen zählen, gab es in letzter Zeit freilich keine Anzeichen für spektakuläre Tätigkeiten. Außerdem stehen die bekannten Gruppen unter stetiger Beobachtung der Polizei. Aus diesem Grund schenkten die Medien Spekulationen um die Verwicklung religiöser Sektenanhänger besondere Bedeutung. Nach einem Giftgasvorfall vor zehn Monaten in der japanischen Provinz war die religiöse Gruppe „Wahrheit des Papageis“ in den Verdacht der Giftgasherstellung geraten. Georg Blume

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