Der Tanker schwimmt wieder

■ Die Wüste lebt (2) – eine Bestandsaufnahme der Bremer Kulturlandschaft/ Heute: das Bremer Theater

Mit einem „Premieren-Marathon“ werde er die Saison 94/95 beginnen. So hatte sich der neue Generalintendant für seine erste Spielzeit als ein Mann des Sports und der großen Worte vorgestellt. „Die Aufgabe ist jetzt, den sehr stark dahindümpelnden Bremer Theatertanker wieder auf Fahrt zu bringen“, hörte man vorab. Damit sei auch ein „Härtetest“ für die Theaterleute verbunden. Aber auch das Bremer Publikum werde in Zukunft seine Aufgeschlossenheit unter Beweis stellen müssen, denn es werde nun mit „zeitgenössischem“ Theater konfrontiert – was immer das heißen mag.

Skepsis war die Reaktion. Waren die Bremer in den letzten Jahren von ihrem Theater doch arg enttäuscht worden. Nun sollte alles besser werden? Plötzlich einer, der bislang als Dramaturg im Ostberliner Gorki Theater gewesen war, als Erlöser in der kulturellen Wüste? Jetzt, wo die Premieren raus sind, wo die erste Spielzeit fast gelaufen ist, kann Bilanz gezogen werden: Was hat sich von den Absichtserklärungen umsetzen lassen? Wie konnte sich das Drei-Sparten-Theater unter dem neuen Intendanten entwickeln? Wenige Wochen vor der Wahl stellt sich auch heraus, ob sich die Entscheidung des Kulturressorts für den Intendanten ausgezahlt hat, ob er sein Geld eher wert ist als die unrühmlichen Vorgänger auf seinem Posten.

Der letzte, Hansgünther Heyme, war erst 92/93 zu seiner ersten Spielzeit angetreten. Nur eine Spielzeit hat Heyme als Intendant in Bremen ausgehalten. Bereits in der zweiten Spielzeit waren die Probleme im Ensemble so massiv, die Produktivität, was Anzahl und Niveau der Premieren angeht, so mager, daß ihm nur ein Rückzug auf die Position des Spielleiters übrigblieb. Am schlimmsten für den Spielbetrieb war aber eine Haltung des Verweigerns, die sich unter Heyme, der häufig durch Abwesenheit glänzte, im Theater breitmachte. Als er ging, weinte ihm niemand eine Träne nach. Als Erfolg muß dabei gewertet werden, daß die damals neue Kultursenatorin Helga Trüpel Forderungen nach einer Ablösesumme zurückweisen konnte. Zurück blieb ein Bremer Theater, das weniger durch eine glanzvolle Vergangenheit, als durch eine jämmerliche Gegenwart gekennzeichnet war.

Die Situation, die Pierwoß vorfand, kann man getrost als „Stunde Null“ des Bremer Theaters bezeichnen. Ein Repertoire ist kaum vorhanden, das Ensemble zerbröselt und um die Finanzen... Ach, die Finanzen! Die Subventionen von 42,5 Millionen sind noch einmal um 2 Millionen gekürzt worden. Allerdings konnte Pierwoß vom Aufsichtsrat der Theater GmbH eine Genehmigung erwirken, die Autonomie für die finanzielle Verteilung innerhalb der gesamten fünf Intendanzjahre zusichert. Da die Pleitegeier in der gesamten Republik über den Kulturinstitutionen kreisen, wird Geschick in Finanzierungsdingen für den Erfolg eines Intendanten zu der zentralen Frage. Pierwoß weiß das und punktet. „Man muß sich überhaupt von diesem Denken verabschieden“, erklärte er bei Vertragsabschluß, „daß über reichhaltige Mittel etwas wirklich Bewegendes und Anstößiges und Widersprüchliches zustande kommt.“ Und ergänzt sein Bekenntnis selbstbewußt: „Subventionen sind Risikoprämien“. Risiko für wenig Geld also?

Sympathischerweise fängt der neue Mann gleich bei sich selbst an. Während Heyme noch mit einem Gehalt von 360.000 Mark über die Stränge schlug, begnügt er sich mit einem (vom Fachblatt „Theater heute“ für angemessen gehaltenen) Jahressalär von 200.000 Mark. Auch sonst wird bei den 480 Theaterangestellten dreimal hingeguckt. Nicht jeder, der aus Altersgründen geht, wird auch ersetzt. Nur vier Schauspieler aus dem alten Ensemble werden übernommen. Neu verpflichtet Pierwoß 18 SchauspielerInnen, überwiegend junge Leute, die gerade aus der Schauspielschule kommen und endlich spielen wollen. Viele von ihnen kommen aus Ostdeutschland. So hat das Bremer Theater seit dieser Spielzeit ein kleines, hochmotiviertes Ensemble, das zu 60 Prozent aus dem Osten stammt – sicher einzigartig in den alten Bundesländern. Allen voran Pierre Besson und Heiko Senst, Irene Kleinschmidt und die schon zu DDR-Zeiten berühmte Ursula Karusseit. Mit solch einem Team läßt sich arbeiten. Alle sind einsatzfähig, können auch in parallel laufenden Produktionen besetzt werden. Und es müssen keine Extragagen bezahlt werden, wie es bei Heyme wieder und wieder durch Gastverpflichtungen nötig war.

Trotz eines Rückgangs um zwei Millionen bei den Subventionen ist die Produktivität – wenn es denn erlaubt ist den Wirtschaftsbetrieb Theater so zu messen – unter der neuen Intendanz gestiegen: um 50 Prozent. Während in der vergleichbaren Antrittsspielzeit Heymes 92/93 bei 19 Premieren der Vorhang hochging, kann Pierwoß, das ist jetzt schon abzusehen, bis Saisonende mit 29 Inszenierungen aufwarten. Das ist nicht nur imposant, sondern auch praktisch. Nur so können nämlich die fünf verschiedenen Spielorte des Theaters auch bespielt werden. Dem Bremer Publikum wird ein besseres Angebot gemacht. „88 Vorstellungen hatten wir im November im Programm,“ weiß Chefdramaturg Uli Fuchs zu vergleichen; „soviel stand unter Heyme in zwei Monaten auf dem Programm.“ Schließlich deckt sich der Etat des Bremer Theaters nicht allein aus den Subventionen; 15 Prozent des Haushalts sollen aus den Einspielergebnissen finanziert werden.

Langsam steigen die erschreckend niedrigen Abonnentenzahlen, die von ehemals 6000 auf 2600 abgesackt waren. Die Platzausnutzung im Theater am Goetheplatz liegt bei stolzen 90 Prozent und auch im Schauspielhaus werden 60 Prozent erreicht. Die Stunde der Wahrheit aber schlägt erst am Kassenschalter. Und bei genauem Hinsehen zeigt sich, daß der Zuspruch des Bremer Publikums ganz eigenen Gesetzen folgt. Weder die Einschätzungen der Theatermacher, was denn nun Risikostücke seien, noch die Meinungen der lokalen KritikerInnen sind ausschlaggebend für den Zuschauerzuspruch. Da läuft eine von der gesamtdeutschen Kritik hoch gelobte Inszenierung von Alexander Galins „Sterne am Morgehimmel“ nur recht mühselig, aber der allseits als bieder belächelte Hauptmannsche „Biberpelz“ erweist sich als Zuschauermagnet.

Nachdem sich Pierwoß in der Pflicht bislang beachtlich gut geschlagen hat, wird der Erfolg seiner Intendanz natürlich auch an der künstlerischen Kür gemessen. Vielzählige Besprechungen in der überregionalen Presse zeigen, daß vom Theater imagefördernde Außenwirkung für die Stadt ausgehen. Das Bremer Theater taucht wieder in den Spalten des Feuilletons auf. Nun sind zwar wahrhaftig nicht alle Produktionen gelungen, es gab auch viel Halbgares, viel Gutgemeintes unter den fast 30 Premieren. Doch Konstanze Lauterbachs „Sterne am Morgenhimmel“ wurde ebenso deutlich zur Kenntnis genommen wie die beiden Teile der „Engel in Amerika“ Inszenierung von Christina Friedrich. Denn ein Fortschritt ist schon, wenn einzelne Inszenierungen ernsthaftes Interesse finden und nicht immer weiter die selbe Schallplatte mit dem Requiem vom Bremer Theater läuft.

Auch sonst hat Klaus Pierwoß beim Schlagen der PR-Trommel ein lockeres Handgelenk gehabt. Aber was zum Schaumschlagen taugen mag, muß einem Theatermann nicht unbedingt gut zu Gesichte stehen. Das Foto vom Kostümwechsel mit Otto Rehhagel bringt es erschreckend deutlich und geschmacklos an den Tag: Während Frack und Zylinder offensichtlich auch den Sportler kleiden, macht der Intendant im Fußballertrikot nur eine unglückliche Figur bei dem Versuch, sich offensichtlich hemmungslos populistisch anzubiedern – und so ein Stückchen vom großen Werder-Erfolg ins Theater herüberzuzerren.

Nein: Klaus Pierwoß' Premieren-Marathon fand auf der Bühne statt, dahin paßt er besser. Hier ist das Bremer Theater nach Jahren in der Bezirksliga wieder in die Bundesliga aufgestiegen, hat gezeigt, was ein neuer Trainer in einer Spielzeit aus einem Team rausholen kann. Schade nur, daß man auf dem Theatertanker, wenn er erst einmal wieder richtig in Fahrt ist, so schlecht nach rechts und links blicken kann. Das beim Antritt noch großzügig gegebene Versprechen an die Freien Theater Gruppen der Stadt, auch sie könnten am Spielort Concordia beteiligt werden – wo ist es es eigentlich geblieben? Heute ist davon kein Wort mehr zu hören. Ist man schon auf hoher See davon gedampft, oder sind alle Zweifel an der Allmacht im Rausch der Premierenfeiern untergegangen? Susanne Raubold