Das Leben als Comic

Zwei neue Berlinensia im Drehregal: Schlüssel- und Kneipenromane von denen um die Fünfzig – von Jens Johler und Barbara Sichtermann  ■ Von Helmut Höge

Wie Kenner der Literaturbranche immer wieder gerne betonen, fehlt es uns vor allem an einem veritablen zeitgenössischen Großroman, der die komplex-gravierenden Erfahrungen und Verwerfungen seit der Wiedereinigung in präzise Empfindungen und Dialoge einbandet – möglichst um eine Liebesgeschichte herum.

Und klar ist auch: dies hat von Groß-Berlin aus zu geschehen. Die bisherigen Anstrengungen suchten dort jedoch auf Teufel komm raus meist im Detail, gingen also eher ins Kleinteilige mit ihrem Plot. Jüngstes Beispiel ist der Luchterhand-Roman von Jens Johler mit dem Titel „Der Falsche“. Es geht darin um die Redaktion der „Schwarzen Protokolle“, die Anfang der siebziger Jahre von einigen rätekommunistisch-orientierten Genossen in Westberlin gegründet wurde. Die letzte Ausgabe erschien 1983 – im Steglitzer Antiquariat Magister Tinius von Peter Ober und Hans-Jörg Viesel.

Wie es sich für einen Roman gehört, sind fast alle Personen- und Periodika-Namen fiktionalisiert. Der Umschlaggestaltung nach zu urteilen, gehört dieser Schlüsselroman in das Segment Airport-Literatur und somit kurioserweise in die aktuelle Auseinandersetzung um den zukünftigen Großflughafen.

Eifersucht als Schreibmotiv

Dazu paßt, daß es dem Autor, Jahrgang 1944, primär um seine damalige Liebesbeziehung zu Antonia, Barbara Sichtermann, geht. Das ist gewissermaßen sein Stoff, und der Titel „Der Falsche“ bezieht sich dabei auf ihn selbst. Aus Eifersucht schlägt er bei der Zusammenstellung der dritten Ausgabe der „Schwarzen Protokolle“, an der sich auch die spätere Zeit- Kolumnistin beteiligte, auf einen schwäbischen Theoretiker namens Hieronymus ein: den heute in Charlottenburg lebenden Widerstandsforscher Hans-Dieter Heilmann, der tatsächlich damals „mit Barbara rumgemacht hatte“, wie sich ein jetzt nur noch buchhändlerisch tätiger Zeitzeuge erinnert.

Inhaltlich ging es Jens Johler dabei um den Abdruck einer rätekommunistischen Auseinandersetzung mit den damaligen Aktions-Vorläufern der Grünen, die PL/PI: Proletarische Linke/Parteiinitiative, die – wie der Name schon sagt – eine praktisch-politische Aufhebung des Widerspruchs zwischen Bewegung und Partei zu etablieren versuchte (und daran scheiterte).

In seinem Roman erinnert sich Johler jedoch vor allem an seinen damaligen Eifersuchtsschmerz, den der Ich-Erzähler dann beim Hannoveraner Psychologie-Professor Peter Brückner, der später ebenfalls in den „Schwarzen Protokollen“ veröffentlichte, zu kurieren versuchte. Dadurch wurde es aber schließlich noch komplizierter für ihn, denn Antonia verliebte sich in Brückner und zog zu ihm. Johler trennte sich daraufhin endgültig von ihr: er war eben „der Falsche“, was er schon gleich zu Beginn des Romans, der Beziehung, irgendwie geahnt hatte.

Auch die Entschlüsselte schrieb einen Roman

Seine Heldin, Barbara Sichtermann, Jahrgang 1943, hat sich bisher noch nicht getraut, dieses „1:1“-Buch über sie zu lesen. Dafür hat sie selbst gerade einen Roman veröffentlicht: „Vicky Victory“. Eigentlich sollte das Wort „Supermarktkassiererin“ im Titel vorkommen, was dem Verlag, Hoffmann und Campe, aber nicht zugkräftig genug erschien. Es geht darin ebenfalls um das Liebesleben eines Freundes von ihr – mit dem Namen Igor Marenge. Wenn man der Autorin glauben darf, lieferte ihr jedoch erst die Wiedervereinigung den „Stoff“ dazu: „Vor dem Mauerfall hätte ich das nicht schreiben können.“

Die gleich danach gestiegenen Mieten vertrieben die Freiberuflerin erst einmal von Neukölln nach Steglitz, seitdem unternimmt sie regelmäßige Streifzüge durch Ostberlin und an die Peripherie. Die eingangs erwähnten Forderungen der Literaturkritik handelt sie zwar detailliert, aber nur als „Spinnerei“ ihrer Hauptfigur ab. Der etwa 30jährige arbeitslose Dolmetscher, noch vor '89 von Ostberlin in den Westen ausgereist, beschäftigt sich gedanklich nämlich immer wieder gerne mit einem Berlin-Modell im Maßstab 1:10000: einer regionalistischen Weiterentwicklung der Borgesschen 1:1-Kartographie.

„Ich mochte diese Insel in der Dey Dey Err“

Wobei es Igor um das Alltagsleben geht – nicht als Einzelfall, „sondern als Quintessenz“, und wie es sich überall in der Stadt als „graues Pulver“ niederschlägt, das er in „Dossiers“ zusammenzutragen gedenkt. Unentschlossen schwankt er dabei zwischen einer Bastel- und Archivarbeit und der Computertechnik. Sein Lebensschwerpunkt ist indes die Moabiter Kneipe „Bella Ciao“, die einem amerikanischen Juden gehört.

1969 hatte die Autorin solch einen Amerikaner an der FU kennengelernt, der „regelrecht Kneipen sammelte“. Im Roman endet die multikulturelle Bier-Idylle mit einem zeittypisch-korrekten Brandanschlag von Rechtsradikalen. Der Wirt klärt Igor auf: „Das alte Westberlin ist hinüber. Ich mochte diese Insel in der Dey Dey Err. Jetzt wird's hier normal: hart, teuer und gemein. Schon vor dem Anschlag hat's mir die Hausverwaltung schriftlich gegeben, daß die Miete nächstes Jahr um 150 Prozent steigen würde.“ Das gilt für viele Kneipen in der Stadt seit 1991.

In den Liebesszenen steckt Kleinarbeit

Auch sonst ist der Wille zur Wirklichkeit im Sichtermann-Text allgegenwärtig, wenn auch nicht als Wirtschafts-Wunsch: „Es war mir vor allem wichtig, lebendige Figuren zu schaffen.“ Das kulminiert in etlichen Liebesszenen – „die am meisten Zeit kosteten, da steckt viel Kleinarbeit drin“. Bei denen die Autorin jedoch selbst noch in der Akrobatik geradezu gesamtgesellschaftliche Veranstaltungen entdeckt: den Analverkehr, aus den achtziger Jahren (mit Sonja); a tergo aus den Siebzigern; im Stehen in alten S-Bahn-Anlagen unterm Potsdamer Platz, nach der Wende; und in Strapsen, nur noch voyeuristisch, die Neunziger: das Oszillieren zwischen Supermarktkassiererin und Prostituierter; schließlich: „mit Andacht“ und einem Tropfen Muttermilch.

Zur gleichen Zeit zerstreut sich die Stammtischrunde aus der „Bella“-Wirtschaft von „Bahnhofsphilosoph“ Marenge – „der sich nicht entwickelt, er ist stagnativ, aber nicht resignativ“ – in alle Winde: Wirt Isaac geht zurück nach Amerika, der Schwule nach Köln, ein anderer nimmt einen Job in Ingolstadt an, sein türkischer Freund, dem er gelegentlich auf Honorarbasis geholfen hat, z.B. um für bayrische Auftraggeber in Ostberlin Straßenschilder und Gedenktafeln berühmter Kommunisten zu klauen, kommt ins Gefängnis, weil er mit einem Fotokopierer Geldscheine fälschte. Das Leben als Comic (seufz).

Verschwindende Kneipen-Soziotope

Auch für die Hauptfigur hält Barbara Sichtermann eine Fluchtlinie parat: „Afrika“ (den guten alten Süden). Wesentlicher ist aber: „Um Igor herum ändert sich die Welt.“ Einige ihrer Ideen darin haben bereits verschiedene bildende Künstler in den letzten Jahren in situ vorweggenommen: erwähnt seien die „Narva-Objekte“ von Raffael Rheinsbergs, der übrigens auch alle Straßenschilder aufgekauft hat, und Christian Boltanskis Arbeit in der Großen Hamburger Straße („Die Endlichkeit der Freiheit 1990), wie ebenso Arno Funkes „Dagobert“-Basteleien (1992–1994).

Auch für ihre Suff-Theorie und ihre Verhängnisforschung gibt bzw. gab es Vorläufer, rund um den Savignyplatz beispielsweise (vgl. dazu die von Thomas Kapielski herausgegebenen Gespräche über das Scheitern: „Der Einzige und sein Offenbarungseid. Verlust der Mittel“, 1994). Und nicht zu vergessen, die auf O-Dialoge spezialisierte Gabriele Goettle, die einstmals die „Schwarze Botin“ herausgab.

Wortgewaltig – für entsprechend Kohle

Das soll nicht heißen, daß die Autorin Sichtermann nicht noch mehr auf der Pfanne hätte, außerdem zielte ihre „Aktion“ sowieso darauf, „etwas wie auf einem Photo festzuhalten“. Also einige ihr durchaus fremde Kneipen-Soziotope in dieser Stadt im Moment ihres Verschwindens ins Bild zu setzen, mitsamt ihren durch statische Schläue und prekäre Pragmatik-Prinzipien-Balance aufrechterhaltenen Existenzentwürfen. Und was diese so an nunmehr teilweise bereits überholten Weisheiten absonderten: Eine Frau wie Vicky erhofft sich vom Leben Westkontakte / Den „Pessi-Ossi“ für einen Fuffziger im Funk geben / Im Lotto spielen: damit der Traum nicht gänzlich in Phantasterei abgleitet / Das Pantheon als Wichsvorlage verwenden / Den Hund Otto Nuschke nennen / Die Hoffnung in Pud einteilen usw.

Jens Johler schreibt in seinem Roman (auf Seite 97), daß er die Rolle des Erzählers genoß, „auch wenn ich natürlich nicht das Talent hatte, die Sache so auszuschmücken und zu dramatisieren, wie Antonia es getan hätte.“ Also Barbara Sichtermann, über deren Roman nun wiederum eine etwa gleichaltrige Rezensentin, von der „Schwarzen Pädagogik“ herkommend, meinte: Sie ist wortgewaltig, aber kann nicht erzählen, sie wollte Kohle machen – 50.000 Mark. Wir waren uns jedoch einig, daß das nichts Verwerfliches (mehr) ist.

Die Autorin selbst bemühte sich, beim Schreiben, ähnlich wie im neuesten Frankenstein-Film, einen „totalen Feuerzauber“ zu entfachen – damit ihre Hauptperson lebe: „Die Frage war, bleibt er eine Leiche, oder schafft er es?“ Geschafft! Aber allzu viele Regungen sind artistische Ausflüchte: Geschichten kommen doch von Schichten her und haben was mit dem Schwarzen (Stoff) unterm Fingernagel zu tun.

Jens Johler: „Der Falsche“, Luchterhand Verlag, 34 DM

Barbara Sichtermann: „Vicky Victory“, Hoffmann und Campe Verlag, 38 DM