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Drowning by numbers

■ Gianni Amelios "Lamerica", ein danteskes Road Movie, läßt die Formel vom "Joint-venture" in neuem Licht erscheinen

„Ruinenarchitektur“ nannte Albert Speer die Bauweise, an der man das Dritte Reich noch erkennen sollte, wenn es längst zur Hölle gefahren war. Albanien ist gänzlich von Bunkern unterkellert; jeden Tag hatte Enver Hoxha in seiner Angst vor imperialistischen Tieffliegern zwischen 1973 und 1980 250 dieser grauen Steinhöhlen bauen lassen, da ist kein Acker mehr ohne.

In dieses Land hat der italienische Filmemacher Gianni Amelio nach dem Ende der Diktatur mehr und mehr seiner Landsleute zwecks sogenannter „Joint-ventures“ fahren sehen. Das ist ein recht behaglicher Ausdruck für allerlei dubiose Geschäfte, die sich das ökonomische und kulturelle Gefälle zwischen den beiden Ländern zunutze machen: Geldwaschanlagen, Abschreibungsobjekte, Subventionsfallen. In diesen Angelegenheiten ist auch ein gewisser Gino (Enrico Lo Verso, der Carabiniere aus „Gestohlene Kinder“) mit seinem gesetzteren Kompagnon unterwegs. Sie suchen einen albanischen Strohmann für eine Schuhfabrik, die sowenig nach Albanien kommen wird wie die blonden Göttinnen, die in manchen Kneipen vor einem hohläugig starrenden Publikum über die Fernsehschirme wackeln.

Seinen Vergil und den ersten Kreis der Hölle

Auf der Suche nach dem Strohmann ziehen sie durch die Katakomben unter der Stadt, in denen während der Diktatur Mißliebige gehalten wurden wie die Cage People von Hongkong. Hier streift der Film, so er je welche hatte, die letzten Reminiszenzen an den italienischen Neorealismus ab. Hier nämlich findet Gino/Dante seinen Vergil und den ersten Kreis der Hölle. Vergil ist Spiro Tozaj, ein Zombie, der dreißig seiner achtzig Lebensjahre in stalinistischen Arbeitslagern verbracht hat. Die da unten hausen, haben mehr als die Hoffnung fahren lassen; nichts Menschliches ist ihnen mehr bekannt, es sei denn Hunger, Durst und Finsternis. Wimmernd, brütend, die Wohlriechenden umschwärmend, drohen sie, die Besucher zu verschlingen. Amelio gelingt, was außer ihm, soweit ich sehen kann, niemandem gelingt: er kann verelendete Massen zeigen, ohne sie zu Ameisenhaufen oder pittoresken Dickens-Vignetten zu reduzieren, und das obwohl er durchaus eine Metaphysik hat. Verschwinden, auch aus der eigenen Zeit verschwinden, kennt er von zu Hause: sein Großvater war auch so ein Zigarettenholer, der dann aus Kalabrien nach Südamerika ging, der Vater, ihm nach, blieb selbst weg, dem wiederum folgte dessen Bruder und so weiter.

Noch als Ginos Kompagnon Fiore also nach Italien zurückgeht, ist der Yuppie in spe, ein hinter Sonnenbrillengläsern versteckter Naivling, ein Parzival, der den Gral gefunden zu haben glaubt mit den Taschen voller Geld und den sehnsüchtig zu ihm herüberschauenden Albanern. Sehnsüchtig?

Langsam, aber sicher wendet sich das Blatt. Vor der entscheidenden Vertragsunterzeichnung läuft Spiro ihm davon. Er weiß seinen Namen nicht, er weiß nicht, was geschieht, er hat ausgelöschte Augen, läuft davon. Ihm auf der Spur verliert Gino, Stück für Stück, wie der Brechtsche Gaul, der den Hungernden zum Opfer fällt, als er einmal strauchelt, alles, was ihn je ausgemacht hat. Nicht mehr sehnsüchtig, sondern unendlich gierig sind die ihn Anstarrenden, unendlich hungrig, unendlich roh. Das Auto nehmen sie mitten auf einem Dorfplatz auseinander, als er nur mal eben telefonieren will; seinen Vergil hätten ein paar Kinder fast in einem Bunker ausgeräuchert, der den Herumlungernden als Abort und Schlafplatz dient, und schließlich verliert er, was man keineswegs verlieren darf: seinen Paß. Mittlerweile sieht Gino aus wie einer von ihnen, warum sollte er es nicht sein? Warum sollte man ausgerechnet ihn nicht ins Gefängnis sperren? Warum sollte man ihn freilassen, ihm einen Anwalt (hoho, ein Anwalt!) holen? Ach ja, Italiener ist er?! Ha ha ha!

Als das Joint-venture, das hier grausam heranrückt, die gemeinsame „Unternehmung“ von Albanien und Italien, bleckt die Armut ihre Zähne. Während Gino zum Albaner wird, entpuppt sich der alte Spiro als Italiener... Aber Amelio ist nicht Kieslowski, er hat keinen Geschmack daran, menschliches Elend zu choreographieren und sich dann aus dem Staub zu machen. Er setzt Gino auf eine der Flüchtlingsfähren, die im Sommer 91 zum Schrecken der Italiener auf Brindisi zukamen.

Wieder zeigt Amelio eine Masse, und wieder wäre nichts leichter gewesen, als sie im Cinemascope zu der bedrohlichen Woge zu stilisieren, als die sie in ihrer Wunschheimat erlebt wurde. Aber hier sieht man einen Burschen, der vorsichtig lacht, eine dicke Alte, die zu ihrem Mann rüberblinzelt, einen Spiro, der etwas von „Lamerica“ faselt. So sehen Leute aus, die hoffen. mn

„Lamerica“, Regie: Gianni Amelio. Mit: Enrico Lo Verso u.a.

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