Die Wahrheiten des Shoko Asahara

Die japanische Polizei verdächtigt die „Erhabene Wahrheit“ im Zusammenhang mit den Giftgasanschlägen und macht bei einer Razzia auf dem Sektengelände eine bestürzende Entdeckung  ■ Aus Tokio Georg Blume

Ein schlanker Betonbau mit glitzerndem Marmorbeschlag in Tokios vornehmstem Modeviertel Minami-Aoyama: Wer hätte sich die Zentrale einer fanatischen, möglicherweise kriminellen buddhistischen Sekte so elegant vorgestellt? Jede Etage des fünfstöckigen Gebäudes verspricht ein anderes „New Age“: Im Keller das gemütliche Antakala-Café, im Erdgeschoß der gut bestückte Software-Laden, darüber die in Tokio unvermeidliche Immobilienfirma und wieder eins höher die „Superstar-Akademie“.

Ganz oben in der fünften Etage aber residiert die Steuerberatungsfirma der Sekte „Erhabene Wahrheit“. Dort schaut ihr umstrittener Guru, der fast blinde Sektenchef Shoko Asahara, nach Angaben der Nachbarn zweimal im Monat vorbei. Dann fährt jedesmal eine große schwarze Limousine im Viertel vor, und Dutzende weißgekleidete Jünger springen um ihr Idol herum, das hier nur erscheint, um die Ordnungsmäßigkeit der Konten zu überprüfen.

In ihrem Tokioter Zentrum sorgten die Gläubiger der „Erhabenen Wahrheit“ nur für die Einnahmenseite ihrer ansonsten über das ganze Land und teilweise sogar über die weite Welt verbreiteten religiösen Aktivitäten. Niederlassungen hat die Sekte auch in Moskau, New York und Bonn, wo sie als „A. Wakatake – Buddhismus und Yoga Center AUM“ firmiert.

Nur hundert Kilometer von Tokio entfernt, im dörflichen Kommunenlager der Sekte vor der stolzen Kulisse des Fujiyamas, zeigten sich im Licht der Polizeiuntersuchungen indessen die häßlichen Seiten des Guru-Glaubens: Fünf bis fast zum Tode verhungerte Gestalten mußten dort die Sicherheitskräfte in den Meditationshallen der Sekte bergen. Der Chefarzt des örtlichen Krankenhauses zeigte sich anschließend über ihren Zustand ernsthaft besorgt. Des weiteren fanden sich 45 Sektenanhänger im Stadium angehender Bewußtlosigkeit.

Der Großangriff von 2.500 Polizisten auf 25 Gebäude und Einrichtungen der „Erhabenen Wahrheit“ hatte bereits am frühen Mittwochmorgen im Zeichen einer gewissen – wenngleich möglicherweise verfrühten – Erleichterung begonnen, denn es schien nun endlich so, daß die Untersuchungsbehörden nach den tödlichen Giftgasanschlägen auf das Tokioter U-Bahn-System vom Montag eine seriöse Täterspur gefunden hatten.

Zwar nannte die Polizei als Anlaß für die Durchsuchungen einen nicht mit den Giftgasverbrechen zusammenhängenden Entführungsfall. Doch schon an den beschlagnahmten Gegenständen ließ sich feststellen, wonach die Sicherheitskräfte suchten: Mindestens sechzig Giftfässer aus den Katakomben der Sekte ließen Polizisten am Abend auf Lastwagen lagen und in staatliche Untersuchungslabors fahren. Nun wartete man gespannt darauf, ob die beschlagnahmten chemischen Stoffe auf einen Zusammenhang mit dem bei den Anschlägen verwandten Nervengift Sarin schließen lassen würden.

Jedenfalls verfügte die Sekte des Shoko Asahara offenbar über eine große chemische Abteilung, im Sektenjargon auch das „Wissenschaftsministerium“ genannt, welcher die Herstellung des Sarin- Giftes durchaus zuzutrauen wäre. In diesem Sinne unterschied sich die Sekte von Asahara von dem meisten anderen neuen Jugendreligionen, die meist nur ein Feierabendvergnügen mit neuen Weltraumgöttern anbieten: Der Guru aber verlangte zumindest von Kernmitgliedern den Einsatz ihres ganzen Lebens, das Zusammensein in der Kommune, ausgiebiges Fasten und extreme Meditationsübungen.

Für die Polizei waren die Gläubigen der „Erhabenen Wahrheit“ deshalb seit Jahren keine Unbekannten mehr. Bereits 1990 unternahmen annähernd 1.000 Polizisten eine – allerdings erfolglose – Razzia der Sekteneinrichtungen. Grund waren die Klagen von Eltern der Sektenmitglieder, die meinten, ihre Kindern würden in den Hallen des Gurus gewaltsam festgehalten. Außerdem wird bereits seit 1989 die dreiköpfige Familie eines Rechtsanwalts gesucht, der sich als erster kritisch mit der Glaubenspraxis von Asahara auseinandergesetzt hatte und eine Klageschrift vorbereitete. Die Anwaltsvereinigung behauptet bis heute, daß der Anwalt und seine Familie von Sektenmitgliedern ermordet wurden.

Guru Asahara beteuerte indessen auch gestern seine Unschuld: Dafür nahm er ein selbstkompomiertes Lied auf, daß er über die russische Radiosendung der Sekte ausstrahlen ließ. Der Mann beherrscht jedenfalls alle Predigerregister. In japanischen Buchläden lassen sich unschwer ganze Regale mit seinen Werken auffinden: „Das Land, in dem die Sonne aufgeht, nähert sich dem Unglück“ lautet sein neuester Titel. Asahara spricht seit einiger Zeit davon, daß es bis zum Jahr 2000 ein für die Menschheit einschneidenes Ereignis geben wird: „1997 wird es den letzten Krieg der Menschheit geben“, heißt es beispielsweise in dem neuen Werk.

Gestern sprach Asahara nun in düsterem Ton von „einem Moment, in dem ich eure Hilfe brauche“, und verband das mit der Idee, „dem Tod ohne Reue entgegenzukommen“. Manche dichteten sich daraus alsbald einen Aufruf zum kollektiven Selbstmord zusammen – indessen geben Asaharas Predigten bisher immer Raum für mehrere Interpretationen.

In den achtziger Jahren konnte er sich gar das Vertrauen des Friedensnobelpreisträgers Dalai Lama erwerben: Damals schrieb ihm das Oberhaupt des tibetischen Buddhismus einen Brief, der Asaharas religiöse Arbeit ausdrücklich würdigt. Beide hatten sich zuvor mehrmals getroffen.

Im August 1989 erreichte Asahara danach die Anerkennung seiner Sekte als religiöse Vereinigung – eine im Rückblick vielleicht folgenreiche Fehlentscheidung der Behörden.