■ Rußland im vierten Monat des Tschetschenien-Krieges: Die Demokraten spalteten sich, doch die russische Demokratie zeigte sich stabiler als erwartet. Ansichten von...
: Eine Partei der Macht, eine Partei der Demokratie

taz: Der Krieg in Tschetschenien dauert nun bereits mehr als drei Monate, doch die russische Bevölkerung scheint sich damit abgefunden zu haben. Ist Jelzins Rechnung, mit einem Krieg seine eigene Position zu festigen, aufgegangen?

Jegor Gaidar: Was heißt aufgegangen? Ich sehe nicht, daß der Präsident etwas gewonnen hätte. Seine Absetzung oder Neuwahlen standen nie zur Diskussion. Die Stabilität Rußlands ist viel zu wichtig. Alle Umfragen zeigen, daß die Mehrheit der Bevölkerung den Krieg nicht unterstützt. Er ist unpopulär. Der Präsident hat massiv an Vertrauen und Popularität seit Kriegsbeginn eingebüßt. Auch für uns war das ein harter Schlag, weil die demokratische Koalition keine einheitliche Position zum Krieg einnahm. Von vernünftigen Leuten, vernünftigen politischen Kräften war niemand für den Krieg.

Zu Beginn des Tschetschenien- Krieges sahen Sie eine ernste Gefahr für die russische Demokratie heraufziehen ...

Jeder Krieg bedroht die demokratischen Institutionen. Risiken undemokratischer Entscheidungen schwingen immer mit. Die Freiheit des Wortes, die Durchführung demokratischer Wahlen stehen auf dem Spiel. Vor allem ist das Risiko eines Machtzuwachses des Sicherheitsapparates auf Kosten der zivilen Strukturen gewachsen. Zum Glück hat dies vorläufig nicht zum Zusammenbruch der Demokratie geführt. Und ich hoffe sehr, daß es nicht zu einem solchen kommt. Doch das Risiko bleibt.

Hat sich die russische Demokratie nicht als überraschend stabil erwiesen?

Vielleicht. Sie zeigte sich stabiler, als ich zunächst vermutete. Das Machtzentrum unterließ einige Folgeschritte, die es eigentlich im Auge hatte, als es den Tschetschenien-Konflikt anzettelte. Ich weiß genau, daß diese „Partei der Macht“ den Präsidenten drängte, die Pressefreiheit zu beschneiden. Ziemlich oft gab es in seiner Umgebung die Forderung, die anstehenden Wahlen zu verschieben. Bisher hat sich der Präsident dem entschieden widersetzt. Das steigert die Chancen einer stabilen Demokratie.

Welche längerfristigen Folgen zeitigt der Krieg? Ist die befürchtete Remilitarisierung der Gesellschaft, vor der Sie warnten, ausgeblieben?

Zum Glück gelang es, das Schlimmste zu vermeiden. Der radikale Nationalismus und die Xenophobie, die sich gegen die Minderheiten vor allem aus dem Kaukasus wendeten, haben sich auf der Welle des Krieges nicht ausbreiten können. Die Unterstützung aggressiver Nationalisten hat ab- und nicht etwa zugenommen. Kein schlechtes Zeichen.

Hat der Westen Ihrer Meinung nach richtig auf den Krieg reagiert? Hätte der Protest nicht schärfer ausfallen müssen?

Nicht schärfer, aber erheblich schneller ... Die Haltung jetzt ist vernünftig, doch hätte sie früher kommen müssen, als Unumkehrbares noch aufzuhalten war.

Im Westen warnen einige davor, in Rußland beschwören es manche herauf: Eine Osterweiterung der Nato könnte Rußland erneut isolieren ...

Wir wissen, daß Rußland kein Vetorecht bei der Erweiterung der Nato haben kann. Und uns ist völlig klar, daß die Nato kein aggressiver Pakt ist: Stabile Demokratien beginnen keine Kriege. Wir verstehen auch den Wunsch unserer Partner in Osteuropa, sich wenigstens symbolisch Westeuropa schneller zu nähern. Das bedroht die Sicherheit Rußlands nicht. Wäre Rußland bereits eine stabile Demokratie – was ich für die Zukunft hoffe –, würde man nicht über eine Erweiterung der Nato, sondern über die Gründung eines neuen, andersgearteten Sicherheitssystems sprechen. Einer Menge akuter Sicherheitsfragen ist die Nato heute nicht gewachsen, wie sich in Bosnien gezeigt hat. Wir waren immer für eine Erweiterung der Sicherheitssysteme, in denen Rußland gleichberechtigt ist. Allerdings sind wir nicht die einzige politische Kraft in Rußland. Uns ist klar, daß eine Osterweiterung von unseren Opponenten genutzt würde, um eine Hysterie zu entfachen. Sie würden versuchen, das Gefühl einer militärischen Bedrohung und einer antirussischen Verschwörung herbeizureden. Natürlich ist das alles andere als angenehm.

Was ist dran an der Diskussion über Rußlands Sonderweg, seiner euroasiatischen Großmachtrolle? Wird hier nicht ein kompensatorischer Diskurs neuaufgelegt, weil man befürchtet, die Modernisierung wieder nicht zu schaffen?

Die Diskussion gab es immer, es gibt sie jetzt, und es wird sie geben. Sie gehört zur intellektuellen Tradition Rußlands.

In Ihrer Partei, „Rußlands Wahl“, hat der Tschetschenien- Krieg tiefe Spuren hinterlassen. Ihr Financier Oleg Boiko verließ Ihre Reihen. Was bedeutet das?

Hier vollzieht sich ein ganz natürlicher Prozeß. Unsere Organisation entstand als eine demokratische Reformpartei in der Nähe der sogenannten „Partei der Macht“. Über Tschetschenien haben wir uns entzweit. In einem bestimmten historischen Moment standen wir vor der schwierigen Entscheidung, bei der Macht oder bei der Demokratie zu bleiben. Wir haben unsere Position erarbeitet, sie ist meines Erachtens die einzig mögliche, die eine demokratische Partei beziehen kann. Wer wollte, blieb bei der „Partei der Macht“, weil er eben wünschte, in der Nähe der politisch Mächtigen zu bleiben. Andere blieben bei der „Partei der Demokratie“. Dieser Prozeß war unausweichlich. Ich bin froh, daß es zum jetzigen Zeitpunkt passierte und nicht knapp vor den Wahlen.

Stehen solche Wirtschaftsmagnaten wie Oleg Boiko noch zur Demokratie oder reicht ihnen ein gewisser Wirtschaftsliberalismus, wenn nötig gar mit einem Schuß Autoritarismus?

In unserer russischen Politik ist das ein traditionelles Dilemma. Sind Markt und Demokratie, zumal unter Übergangsbedingungen, zu vereinbaren? Ich bin trotz aller Schwierigkeiten überzeugt, es gibt keinen anderen Weg. Ich glaube nicht, daß in einem totalitären Rußland die notwendigen Wirtschaftsreformen durchgeführt werden können. Ein neues totalitäres System in Rußland? Das kann ich mir sehr gut vorstellen. Aber daß es eingeführt wird, um die marktwirtschaftlichen Reformen zu befördern, kann ich nicht glauben. Wir haben eine andere Tradition. Es gibt Leute, die wegen der fehlenden Stabilität auf eine totalitäre Lösung setzen.

Bislang gingen Kapital und Demokratie den gleichen Weg. Nun scheiden sich die Wege.

Ich unterstreiche nochmals: Marktwirtschaft ohne Demokratie hat in Rußland keine Zukunft.

Wird ein totalitäres System aber nicht auch an der offenen Gesellschaft scheitern, die in Rußland inzwischen entstanden ist?

Ich fürchte eine inkonsequente Wirtschaftspolitik und schwache Versuche, zum alten System zurückzukehren. Schwache Versuche, die nicht hinreichen, den Totalitarismus einzuführen, aber stark genug, um den Marktmechanismus zu zerschlagen.

Tatsächlich hat sich das Leben in Rußland stark verändert. Man muß verstehen, welche Bedeutung im russischen „Epos“ Erscheinungen wie die „Schlange“, das Wort „auftreiben“, die „Wursttour“ hatten. Das kann nicht verstehen, wer mit diesem Mangel nicht gelebt hat. Das gerät rasch in Vergessenheit oder wird zur Legende. Das System der Verbindungen, der sozialen Beziehungen, all das war bei uns anders aufgebaut infolge des Mangels. Selbst der soziale Status war vom Zugang zu Mangelwaren abhängig. Dergleichen ist verschwunden. Dafür ist die Rolle des Geldes immer wichtiger geworden. Das soziale Gefüge der Gesellschaft hat sich sehr stark verändert. Einzelne soziale Gruppen haben sehr viel gewonnen, andere erheblich verloren. Natürlich gelang es der alten Elite weitgehend, ihre Position zu wahren, obwohl sie einen Teil ihrer Macht und Möglichkeiten einbüßte. Jedenfalls war sie gezwungen, neue Formen zu finden. Das ist ein langer Prozeß der Veränderungen, der sich auf das Alltagsleben der Menschen einerseits positiv auswirkt, andererseits sie aber auch äußerst belastet. In den nächsten Jahren wird sich das noch fortsetzen.

Und wie steht es um das Verhältnis der Gesellschaft zur Macht? Hat es sich ebenso einschneidend verändert?

Radikal hat sich daran nichts geändert. Die traditionellen Beziehungen waren paternalistisch geprägt. Die Gesellschaft erwartete von der Macht Strafe oder Gnade. In den letzten Jahren entstand dann ein „verkehrter Paternalismus“. Erst verhält man sich in seiner Ehrerbietung geradezu kindisch gegenüber dem Staat, dann bringt man ihn gleichsam auf kindische Art und Weise zu Fall. „Vater Staat“ ist nicht mehr lieb, sondern böse, dafür aber schwach. Man schlägt ihn und er gibt trotzdem, denn er hat alles, ist allmächtig, obwohl er böse ist. Nur langsam bildet sich die Auffassung heraus, daß der Staat ein Instrument der Gesellschaft für niemand anderen als die Gesellschaft ist. Der Staat ist ein Mechanismus zur Verteilung der Ressourcen. Bei vielen führt diese Erkenntnis zur Enttäuschung über den Staat, man sieht seine Grenzen. Die Depolitisierung ist eng mit dieser Krise des Paternalismus verknüpft.

Sie selbst stehen in der Tradition der Aufklärer, der Westler. In der Tradition von Alexander Herzen und Josef Brodsky. Fühlen Sie sich manchmal fremd in diesem Land?

Nein, nie. Das ist mein Land. Ich liebe es, kenne es. Ich wünschte mir, jene Abenteurer fühlten sich fremd, die das Rad zurückdrehen wollen. Natürlich stehe ich für eine bestimmte Tradition, nicht nur von Herzen und Brodsky. Mehr noch setzen wir die Tradition von Alexander II., Stolypin, Witte (pragmatische Modernisierer Rußlands im 19. Jahrhundert, d. Red.) fort. Von allen, die versuchten, in Rußland das Privateigentum zu stärken und die Herausbildung einer zivilen Gesellschaft zu fördern.

Auf dem westlichen Weg ...

Ja, ja, so kann man das nennen. Mit den Spezifika Rußlands, mit seinem historischen Schicksal und seinen Erfahrungen. Aber auf dem westlichen Weg einer sich selbst entwickelnden Gesellschaft und nicht einer Gesellschaft unter der Fuchtel von Staatsfunktionären. Darin liegt das größte Übel der russischen Geschichte.

Vor zwei Jahren war auch Außenminister Kosyrew noch ein überzeugter Westler.

Es ist kein Geheimnis, wir haben uns über Tschetschenien entzweit. Er trat aus der Fraktion und aus der Partei aus, nein, nur aus der Fraktion, aus der Partei nicht. Das ist seine Entscheidung, die nicht zufällig war und sich nicht erst im Dezember abzeichnete.

So wie ihn haben Sie viele politische Mitstreiter verloren.

Weniger als befürchtet.

Wird es vor den Parlamentswahlen im Dezember gelingen, die demokratischen Kräfte unter einen Hut zu bringen?

Es ist schwierig, Demokraten zu organisieren. Übrigens ist dies die schwierigste Frage in allen Demokratiemodellen. Unsere Positionen sind nicht symmetrisch. Schon 1993 traten wir für eine breite Koalition aller demokratischen Kräfte ein – und waren die einzigen. Jetzt wieder. Was soll's? Damals meinten unsere potentiellen Partner, im Alleingang besser zu fahren. Das schlug fehl. Ich hoffe, sie haben wenigstens aus ihren eigenen Fehlern eine Lehre gezogen.

Nach Ihrem Ausscheiden aus dem Amt als Premier meinten Sie, unabhängig von der Person sei die Hauptsache, Ihre Politik würde weitergeführt. Dies war aber nur in den ersten zwei Monaten des vergangenen Jahres der Fall.

Die entscheidenden Fehler wurden im April vor einem Jahr begangen, als Agrarier und Kommunisten die Regierung angriffen und in das ohnehin nicht solide ausgearbeitete Budget Änderungen von verheerenden Konsequenzen einbrachten. Korrekturen, die von zehn Billionen Rubel Mehreinnahmen ausgingen. Es war politisch leichter, nicht auf einem soliden Haushaltsentwurf zu bestehen. Auf mich hörte keiner. Die sozialen und wirtschaftlichen Probleme sehen wir jetzt. Darüber hinaus wurde versäumt, Reformen in drei ganz wesentlichen Bereichen in Angriff zu nehmen: Die Agrarreform kommt nicht in Gang, bei der Militärreform bewegt sich nichts, und die längst überfällige Umbildung der gesamten staatlichen Verwaltung scheut man auch.

Es heißt, auch Jelzin gründe eine Partei. Nicht auf der Basis politischer Orientierungen, sondern mit Leuten, die „etwas zu verlieren haben“.

Warten wir's ab. Interview: Klaus-Helge Donath