■ Das Portrait
: Sauberes Schlitzohr

„Ein Mann, bei dem vor allem eines auffällt – seine Fähigkeit, offenbare Nachteile in großartige Vorteile zu verwandeln“: Der 64jährigen Renato Ruggiero, neuer Chef der Welthandelsorganisation WTO, ist dieser Charakterisierung des TV-Senders RAI 3 wieder gerecht geworden. Trotz eines ganzen Bündels von Handicaps kam nach einer knapp dreivierteljährigen Kampagne zum Ziel.

Daß er überzeugter Europäer ist, paßte den Amerikanern nicht; daß er Italiener ist, rief das Mißtrauen der Deutschen wie der Franzosen hervor, und seine neapolitanische Herkunft ließ auch im Norden der Republik Vorbehalte aufkommen, das untersetzte Kraftbündel könne hinter seiner freundlichen Fassade ungute Verbindungen zum camorristischen Untergrund verbergen. Daß er zeitweise eng an Fiat gebunden war, ließ die japanischen und amerikanischen Großindustriellen die Stirn runzeln, und daß er in der EG lange Zeit als Kommissar nur in allergrößten Dimensionen dachte, verwirrte die kleineren Länder.

Doch Ruggiero drehte schlitzohrig sämtliche Nachteile um: Daß er aus Europa kommt, hat er den Amerikanern als Vorteil verkauft – damit ließen sich doch die Länder des Alten Kontinents stärker in die Disziplin nehmen lassen. Daß er Italiener ist, brachte er zuerst den Europäern und dann den anderen Staatslenkern mit dem Argument nahe, daß damit eben keine der heute dominierenden Wirtschaftsmächte die WTO-Spitze besetzten, sondern ein eher armes, gebeuteltes Land, dem die kleineren und minderprivielgierten Länder eher glauben als den Geldprotzen.

Renato Ruggiero Foto: rtr

Daß er zu Fiat ging, setzt er in seiner Biographie als Beleg einer gewissenhaften Konzernlehre ein und betont gleichzeitig, daß er ja dann auch noch freiwillig wieder aus dem Turiner Konzern ausgeschieden sei, also weder nach Streit noch nach Mißerfolgen. Den Deutschen und den Franzosen brauchte er im übrigen die Erinnerung gar nicht sonderlich aufzufrischen: Zumindest den Währungserfahrenen unter ihnen ist bekannt, daß Ruggiero 1978 zu den Schöpfern der europäischen Währungsschlange gehörte. Und so wendet sich denn auch seine neapolitanische Herkunft bereits ins Positive: „Ein Mann, der dickköpfig ist, aber auch schon aufgrund seiner Lebensart in unorthodoxen Kategorien denken kann“, vermutet der Corriere della sera. Und schließlich: Kein dunkler Fleck wurde in seiner Vergangenheit gefunden. Werner Raith