: Das Netz vor dem Aufprall
Neue Formen der Wissensvermittlung wendet die „Stadt-als-Schule“ an: selbstgewähltes Praktikum und zwei Tage regulärer Unterricht / Wird die Hauptschule zum Auslaufmodell? ■ Von Michaela Eck
Nicht erreichtes Klassenziel, Schulwechsel – stetig und unabänderlich scheiterten Stephans* Versuche, mit der Schule „klarzukommen.“ Das Resultat: Er störte und schwänzte den Unterricht, verschlief die Klassenarbeiten – kurzum, er verweigerte sich. Seinen Spaß fand der 17jährige, wer mochte es ihm verdenken, eben außerhalb der Klassenzimmer. Die LehrerInnen hatten resigniert, und der Hauptschulabschluß, das Ticket für eine Lehrstelle oder einen Ausbildungsplatz, lag in weiter Ferne. Doch Stephan hatte Glück und bekam an der „Stadt-als- Schule“ (SAS) einen Platz. „Hier stehe ich nicht unter dem Zwang, eine Norm zu erfüllen, Lernen macht wieder Spaß“, sagt er mit einem Augenzwinkern.
Die „Stadt-als-Schule“ ist mit ihren rund 100 Schülern eine von 56 Berliner Hauptschulen und ein in der Bundesrepublik einzigartiges Projekt. Die Idee dieser Schule, Bildung durch Lernen in der Praxis zu vermitteln, stammt aus den USA. Seit gut zwei Jahren wird hier im Rahmen eines staatlichen Bildungsangebots diese neue Form des Lernens erprobt. Ob Hauptschule, Gymnasium oder Gesamtschule, diese neue Form des Lernens sei an keine Schulart gebunden und könne an jeder Schule geprobt werden, betont die Schulleiterin der „Stadt-als- Schule“. Eine der Aufnahmebedingungen ist, neben dem Willen wirklich selbständig lernen zu wollen, ein „Gescheiterten-Zertifikat“ – ohne „Ehrenrunde“ läuft nichts.
In der „Stadt-als-Schule“ werden der gesamte Fächerkanon und sämtliche Unterrichtsformen auf den Kopf gestellt. Die Schüler und Schülerinnen werden nicht mit trockenem Lehrplan-Futter gestopft, sondern lernen in der Praxis bei der tagtäglichen Arbeit. „Uns geht es darum, daß das Lernen von Inhalten durch die Arbeit in der Praxis in Gang gesetzt wird, beschreibt Dorit Grieser, Schulleiterin der „Stadt-als-Schule“ den Reformansatz.
So gehe es zum Beispiel bei einem Praxisplatz beim Tischler nicht in erster Linie darum, etwas zu fertigen, sondern die Schüler sollen ganzheitlich denken lernen. Hier böte sich an über Holzschutzmittel, Papierverarbeitung, Klimakatastrophe oder den Regenwald weiterzuarbeiten. Was bedeutet, daß sich die Schüler ihr Wissen aus Büchern oder von Experten selbst organisiern müssen.
Die „Stadt-als-Schule“ als rühmliche Ausnahme? Weithin sind die Hauptschulen als „Restschule“ verpönt, werden als verkappte Sonderschulen verschrien und gelten als „Stiefkind“ und „Auslaufmodell“. Das schlechte Image spiegelt sich auch in den „Anmeldungsqoten“ der einzelnen Schularten – gesammelt und zusammengestellt von der Senatsschulverwaltung.
Von den rund 400.000 Berliner Schüler und Schülerinnen begannen im Westteil der Stadt nur knapp 15 Prozent und im Ostteil der Stadt nur knapp sechs Prozent ihre Schulkarriere an einer Hauptschule. Absoluter Spitzenreiter unter den Schülern ist mit fast 40 Prozent in Ost und West das Gymnasium. Nur knapp gefolgt von den Gesamtschulen mit einer Anmeldungsquote von knapp 30 Prozent im Westen und 33 Prozent im Osten.
Doch so schlecht wie ihr Ruf ist die Hauptschule meist nicht. Zwar gerät sie auch immer mal wieder ins parteipolitische Schußfeld, doch solange in den Gesamtschulen der hehre Anspruch der siebziger Jahre, nämlich die Drittelung der Schüler nach Haupt-, Realschüler und Gymnasiasten, nicht eingehalten werde (an den meisten Gesamtschulen haben 90 Prozent der Schüler eine Hauptschulempfehlung), solange sei die kleinere, überschaubarere Hauptschule eine Alternative, sagt eine Lehrerin. „Ich bin für den Erhalt der Hauptschulen“, betont auch Peter Braune von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).
In der „Stadt-als-Schule“ findet regulärer Unterricht in den Fächern Englisch oder Mathematik nur an zwei Tagen der Woche statt, die restliche Zeit arbeiten die Schüler fächerübergreifend in der Praxis. Ihren Praxisplatz suchen sie sich nach ihren Interessen selbst aus, die Schule gibt nur minimale Vorgaben.
Das Schuljahr ist in Trimester aufgeteilt, eine Praxiseinheit läuft über drei Monate. Betreut von MentorInnen und LehrerInnen lernen und arbeiten sie in dieser Zeit entweder in einem Restaurant oder in einem Krankenhaus, im Tierheim oder in einer Autowerkstatt, im Kindergarten, im Theater oder einer Zeitungsredaktion. „Nicht die Arbeit steht hier im Vordergrund“, betont die Schulleiterin der „Stadt-als-Schule“, „sondern die Schüler sollen über ihre Tätigkeit angeregt werden, weiter zu forschen und zu lernen.“ Zum Schluß eines Trimesters steht dann ein ausführlicher Praxisbericht.
Hunderte von Praxisplätzen von A bis Z decken sämtliche Berufsfelder ab. „Wissen wird nicht mehr nur von der Tafel gelernt, sondern ich erfahre es sozusagen am eigenen Leib“, erzählt Stephan, der zum Abschluß seines Trimesters in einem Spezialitäten- restaurant seine Klasse mit einem opulenten Mal überraschte. Statt Unterricht wurde gefuttert und erzählt über die lateinamerikanische Küche, die Zubereitung von Gemüse oder den Einsatz von Gewürzen.
Daß diese Wissensvermittlung Erfolg hat zeigt sich nach zwei Jahren Schulversuch. „Mehr als zwei Drittel der ersten Schülergeneration, denen prognostiziert wurde, sie würden die allgemeinbildenden Schulen ohne Abschluß verlassen müssen, konnten nach der neunten Klasse den einfachen beziehungsweise nach der zehnten Klasse den erweiterten Hauptschulabschluß erreichen“, so die Bilanz der Schulleiterin.
In der „Stadt-als-Schule“ wurde nur das konsequent weiterentwickelt, was auch, und zwar aus Not, an den „traditionellen“ Hauptschulen im kleinen Rahmen begonnen wurde: Lernen durch Arbeit und fächerübergreifender Unterricht. „In fast allen Hauptschulen sind die Rahmenpläne, das was pro Schuljahr wie und wann in den einzelnen Fächern unterrichtet werden muß, außer Kraft gesetzt, weil sie pädagogisch nicht mehr vertretbar waren“, bestätigt Peter Braune von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) den Trend.
Projekt- und praxisorientiertes Lernen hat auch hier längst Einzug gehalten. „Gerade schwierige Schüler lassen sich bei Projekttagen, wo der 45-Minuten-Alltag aufgebrochen ist, wunderbar einbinden und motivieren“, meint auch Ralf Schiweck von der Schöneberger Waldenburg-Oberschule. Praxisorientiertes Lernen ist natürlich nicht auf eine Schulform beschränkt, und auch die „Stadt-als-Schule“ ist mehr oder weniger durch Zufall zur Hauptschule geworden. Der Druck aber, Lernen zu reformieren, ist an den Hauptschulen mit einer hauptsächlich unmotivierten, unkonzentrierten und mit wenig Ausdauer ausgestatteten Schülerschaft einfach größer als an anderen Schulformen. „Wir sind das Netz, die letzte Sicherung vor dem Aufprall. All diejenigen, die an anderen Oberschulen durchgefallen sind, landen bei uns an der Hauptschule“, faßt Ralf Schiweck seine Klientel zusammen.
Ein großes Problem der Hauptschulen ist auch der hohe Ausländeranteil. An manchen Schulen vor allem im Westteil der Stadt beträgt er rund 70 Prozent. Das liege einerseits daran, daß ausländische Eltern ihre Kinder eher auf eine Hauptschule schicken als deutsche Eltern, die doch eher versuchen, ihre Kinder auf einer Gesamtschule unterzubringen, erklärt Ralf Schiweck von der Waldenburg-Oberschule das Phänomen. Andererseits „tragen die Hauptschulen auch die Hauptlast der Integrationsarbeit“, bestätigt Peter Braune von der GEW.
„Alle Kinder, Flüchtlinge oder Spätaussiedler, egal ob sie in Bosnien ein Gymnasium besuchten oder in Rußland eine Hauptschule, alle kommen sie erst mal zu uns“, so Braune. „Wir sind ein regelrechtes Auffangbecken und Durchlaufstation für all diejenigen, die sonst keinen Platz an einer Schule bekommen.“ Oft stehen erst einmal gewaltige Sprachprobleme im Vordergrund. Für den Unterricht sei dies oft sehr schwierig, da muß man sich wirklich was einfallen lassen.
Sehr viel belastender sei jedoch, daß die meisten Schüler und Schülerinnen aus „broken homes“ kommen, benennt Heinz Winkler, Schullleiter der 2. OH Kreuzberg, das Problem. Alkoholismus, Arbeitslosigkeit, auseinandergefallene Familien, fast jedes Kind hat solch einen familiären Hintergrund, und in der Summe sei es eben eine äußerst problematische „Klientel“.
Ein schwieriges Terrain, das viel pädagogisches Geschick, Fingerspitzengefühl und Engagement braucht. Und oft sei Unterricht, so Peter Braune, nur „auf der Straße“ möglich. Besonders die Schüler, die randalierend und gewalttätig ihre Probleme lösten, ließen sich hier motivieren. „An meiner Schule haben wir statt den Rahmenplanvorgaben für das Hauptfach Arbeitslehre eine Reparaturgruppe eingerichte. Hier organisieren die Schüler selbst, was in der Schule repariert werden muß“, sagt Peter Braune. „Natürlich gehen sie dann auch rauchen oder pfeifen sich 'ne Wurst ein, aber sie bringen auch Ergebnisse, und vor allem sie haben Lust weiter zu forschen und wollen es wissen, wenn sie auf Hindernisse stoßen.“
Die Lehrer haben hier mit schwierigen Stituationen und Schülern zu kämpfen, doch daß an Hauptschulen die Gewaltbereitschaft deutlich höher ist als an Gymnasien, Real- oder Gesamtschulen, läßt sich letztendlich nicht belegen. Vergleicht man jedoch die angezeigten Straftaten an den einzelnen Schultypen – festgehalten in einer Dokumentation der Senatsschulverwaltung zu Gewalt in der Schule aus dem Jahre 1992 – so liegen die Strafanzeigen der Hauptschulen aber mit 0,5 Prozent deutlich über den der Gymnasien mit 0,03 Prozent und den der Gesamtschulen mit 0,2 Prozent.
Doch nach wie vor habe die Hauptschule auch deshalb einen hohen Stellenwert, da in den Eingangsklassen sieben und acht die Lerngruppen mit rund 16 Schülern bewußt klein gehalten werden, so Heinz Winkler von der 2. OH Kreuzberg. Die Gesamtschule per se berge sicherlich mehr Chancen als eine herkömmliche Hauptschule. Doch wenn die Gesamtschule Gefahr läuft, zu einem großen, schwerfälligen und manövrierunfähigen Schiff zu werden, dann könne sie nicht angemessen auf die entsprechenden Probleme reagieren.
Die Diskussion um die Schulformen ist zweitrangig, in erster Linie sollte es darum gehen, eine neue, andere Vermittlung von Wissen einzuführen, die die Schüler und nicht die Rahmenpläne ins Zentrum stellt. Die Kinder und Jugendliche lehrt, eigenverantwortlich denken und handeln zu lernen.
* Name von der Red. geändert
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