piwik no script img

Überirdische Kräfte

Droht ein Terrorismus aus Japans neuer Sektenbewegung? / Charismatische Führer finden Zulauf  ■ Aus Tokio Georg Blume

„Seit langer Zeit wollte ich den Sinn des Lebens entdecken, aber die großen Philosophen gaben mir keine Antwort“, erinnert sich die graduierte Wissenschaftlerin Takako Hagisawa, damals 26 Jahre alt, in einem Buch des Gurus Shoko Asahara. Das war 1987. „Ich hielt Religion für etwas Lächerliches“, berichtet Hagisawa, „bis ich Asaharas Seminar zum Erlangen überirdischer Kräfte besuchte.“ Dort unterrichtete man sie später auch vom bevorstehenden Weltuntergang und sagte ihr, daß sie in Zukunft kein normals Leben mehr führen könne. „Ich war glücklich, das zu hören“, weiß Hagisawa heute noch.

Der Weltuntergang, von dem in den Aufzeichnungen der jungen Sektenanhängerin die Rede war, begann vermutlich schon am vergangenen Montag in der Tokioter U-Bahn, als bislang unbekannte Terroristen fünf Waggons mit dem Nazi-Gift Sarin in eine tödliche Falle verwandelten. Das schwerste Attentat der japanischen Kriminalgeschichte kostete bis zum Freitag zehn Menschen das Leben, über fünftausend wurden verletzt, einige von ihnen schwebten gestern noch immer in Lebensgefahr.

Sechs Millionen Tokioter, die täglich mit der U-Bahn unterwegs sind, fürchten sich seither vor Dosen oder Flaschen in dicken Plastiktüten – so hatten die Terroristen das Gift in der U-Bahn deponiert. Die Ermittlungen der Polizei aber warfen rasch grundsätzlichere Fragen auf, die allesamt auf eine bis dahin völlig unbekannte Gefahr deuteten: Japans versteckter Fundamentalismus.

Shoko Asahara, 40, der Führer der Sekte „Erhabene Wahrheit“, ist ein Mensch, der gerne in großen Zügen über Leben und Tod und den „letzten Krieg der Menschheit im Jahr 1997“ nachdenkt. Insofern machte der Guru gestern eine Ausnahme, als er dem halbstaatlichen japanischen Fernsehen NHK keine Predigt, sondern ein Videoband mit Antworten auf die kriminalistischen Fragen des Senders überließ. „Unsere Gruppe hat keinerlei Interesse an einem Massenmord an unschuldigen Menschen“, behauptet der Guru nun.

Asahara verteidigte zudem den Besitz der Chemikalien, die von der Polizei zuvor in den Einrichtungen der Sekte beschlagnahmt wurden: Alle Stoffe würden für die Produktion von Gütern gebraucht, die seine Organisation verkauft. Ein Zusammenhang mit der Herstellung des Nervengifts Sarin bestehe nicht.

Selten zuvor hatte man den Guru derart in die Enge getrieben: Seine religiösen Erklärungsversuche hatten dem selbsternannten buddhistischen Prediger schon in der achtziger Jahren das Interesse angesehener japanischer Gelehrter eingebracht und ihm überdies die Freundschaft des Friedensnobelpreisträgers Dalai Lama eingetragen. „Wenn es so weitergeht, wird der Buddhismus aus Japan verschwinden“, soll das Oberhaupt der tibetischen Buddhisten dem japanischen Guru gesagt haben. „Sie aber können in Japan die richtige Religion verbreiten, denn Sie haben das Herz von Buddha.“ Es gibt kaum Zweifel an der Richtigkeit von Asaharas Aufzeichungen aus dem Jahr 1987.

Aber wie sich der Dalai Lama getäuscht hatte: Außer Tonnen von Chemikalien, die bei der Herstellung von Sarin nützlich sind, beschlagnahmte die Polizei Gasmasken und einen Giftgasdetektor in den ländlichen Dorfbehausungen der Sekte Asaharas. Währenddessen kündigten die druckfertigen Zeitungsvorlagen der Gruppe einen Gaskrieg an, der 90 Prozent der japanischen Städteeinwohner das Leben kosten sollte. Hatte das Wirtschaftsblatt Nihon Keizai nach den Anschlägen etwa zu Recht gewarnt: „Wir müssen uns gegen den Massenmord wehren, der unsere soziale Ordnung zerstört“?

Längst vergessene Erinnerungen an die schlechten Erfahrungen mit dem Extremismus in Japan wurden wieder wach. Über 300 Jahre lebten die Japaner zunächst in Frieden, bis sie sich in der Mitte dieses Jahrhunderts auf Geheiß ihres Kaisers in den „Großen Ostasiatischen Krieg“ stürzten. Dann aber wurden aus friedliebenden Tennogläubigen blutdürstende Kamikazeflieger. Ist es nun möglich, daß neue Sektenführer wie Shoko Asahara ihre Anhänger in eine ähnliche Selbstaufgabe führen können, wie es der Kaiserkult einst für eine ganze Generation kriegsbegeisterter japanischer Jugendlicher im Zweiten Weltkrieg getan hatte?

„Die meisten neuen Religionen in Japan erscheinen harmlos“, urteilte das US-Magazin Newsweek vor vier Jahren. Bereits damals hatten die amerikanischen Journalisten auch Sekten wie die „Erhabene Wahrheit“ im Visier.

Alle Recherchen in der üppig blühenden Sektenszene werden schon durch die schiere Masse der Bewegungen erschwert: In Japan gibt es nach Angaben der staatlichen Kulturbehörde derzeit 231.000 religiöse Gruppierungen und Sekten mit annäherend 215 Millionen Mitgliedern, mehr als eineinhalbmal die Zahl der Bevölkerung von 124 Millionen. Denn viele Japaner sind Mitglieder verschiedener Tempel oder Schreine. Wer etwa in die Großstadt zieht und dort Mitglied einer religiösen Gruppe wird, bleibt dem Schrein seines Heimatdorfs trotzdem registriert. Zu den von der Regierung anerkannten Sekten kann in einem Dorf oder einer Stadt jede Straße zählen, die sich nach alter Tradition der shintoistischen Naturreligion ihren eigenen Schutzgott erhält.

Der Begriff „neue Religion“ (shinto shukyo), unter den in Japan jetzt die Sekte Asaharas fällt, ist zudem gar nicht neu: Im 9. Jahrhundert galt der Buddhismus, den man aus China übernahm, als neue Religion. Tausend Jahre später war es dann das Christentum, auf das die Definition zutraf. Noch heute gilt die Zeit der Industrialisierung von Ende des 19. bis Anfang des 20. Jahrhunderts als Epoche der neuen Religionen. Damals entstanden viele Gruppierungen, die sich von den staatlich gelenkten Formen des Shintoismus und Buddhismus lösten, aber erst nach Ende der Tennodiktatur 1945 ihre volle Freiheit bekamen.

Bis heute erreichen die Mitgliederzahlen dieser neuen Religionen oft Millionenhöhen. Wie die Moon-Sekte oder die buddhistische Soka-Gakkai-Bewegung beruhen sie auf einem zum Teil faschistischen Personenkult. Freilich änderte auch der religiöse Nachkriegspopulismus nichts daran, daß Glaubenszugehörigkeiten in Japan wie Kleidermoden gewechselt werden und es jedermensch als normal empfindet, christlich zu heiraten, auch wenn man shintoistisch getauft wurde und die Eltern buddhistisch begraben ließ. Ende der achtziger Jahren folgte die bislang letzte Gründungswelle neuer Sekten: Gruppen wie die von Asahara suchten nach neuen Wegen der Selbstverwirklichung für den vereinsamten Großstadtbürger.

Eine der heute erfolgreichsten neuen Bewegungen ist die Sekte „The Science of Human Happiness“ unter ihrem charismatischen Führer Ryuho Okawa, der darauf besteht, als erster eine „neunte Dimension“ entdeckt zu haben. Okawa spricht von sich als Sprachrohr so unterschiedlicher Figuren wie Jesus Christus, Konfuzius, Buddha und Mohammed und fühlt sich künstlerisch inspiriert durch Beethoven, Picasso und Vincent van Gogh. Erst vor kurzem gelang es der Sekte, mehrere Angestellte des angesehenen Mitsubishi-Handelshauses zu rekrutieren.

„Wenn ich an die Zeit in meiner Firma denke, wo ich jeden Tag bis 2 Uhr in den Bars auf der Ginza verbrachte, dann ist heute jeder Tag ein glücklicher Tag“, berichtet Hironori Matsushima, 37, über seinen Lebenswandel. Den Job bei der Weltfirma habe er einst angenommen, um „Brücken zwischen den Völkern zu bauen“. Dann aber fühlte Matsushima, daß es bei Mitsubishi nur um „Geld und Karriere“ ging. Auf seiner Abschiedsparty erschienen alle 17 Kollegen seiner Abteilung, und 14 davon beneideten ihn, weil er einen Traum verwirklichen könne. „Nachdem wir den Krieg verloren hatten, konnten wir nicht mehr über Gott reden“, sagt die bekannte Schauspielerin Tomoko Ogawa, ebenfalls ein Sektenmitglied der „Science of Human Happiness“. Damit deutet sie auf die Rolle des Tennos als vormaligen Gottkaiser. Erst nach der japanischen Kapitulation 1945 entsagte Kriegskaiser Hirohito seiner offiziellen Göttlichkeit. „Seitdem ist Religion in Japan ein Tabu-thema“, rechtfertigt Omoko heute ihre neue Relgiösität.

Politiker haben das Problem längst erkannt: „In den Wirtschaftstabellen steht Japan heute gleichauf oder sogar vor Amerika“, schreibt Oppositionsführer Ichiro Ozawa in einem der seltenen politischen Bestseller der letzten Jahre. „Doch von einem ,japanischen Traum‘ habe ich noch niemanden sprechen hören.“ Zu reglementiert und voraussehbar sind die Berufswege für viele Japaner, die im Leben mehr wollen als einen sicheren Arbeitsplatz und ein volles Bankkonto. Viele neue Sekten haben sich deshalb ganz auf die Feierabendgestaltung des japanischen „Salaryman“ kapriziert: Besonders beliebt sind Weltraumpredigten auf Satellitenkanälen, Hypnose und Computersimulationen von außerirdischen Kräften.

Doch gerade aufgrund der buddhistischen Tradition vieler Gruppen, die eher Weltflucht als Missionsdrang auszeichnet, schien die Verbindung zwischen Religion und Terrorismus in Japan eher fernzuliegen. Erst Asaharas Sekte zeigt, wie nah der Schritt zu einem neuen Fundamentalismus liegt, der in den konfuzianistisch geprägten Gesellschaften Ostasiens bisher nicht anzutreffen war.

Der Schriftsteller Takashi Tachibana, eine Art japanischer Walraff, warnt freilich vor rascher Vorverurteilung: „Die Sekte Asaharas hat Angst vor einem Krieg, von dem sie die eigene Ausrottung befürchtet. Die Sektenmitglieder übten deshalb Abwehrmaßnahmen gegen Atom- und Gaskrieg.“ Tachibana schließt deshalb nicht aus, daß andere Täter im Schatten der großteils schon vorher bekannten Sektenaktivitäten die Attentate in der U-Bahn verübten.

Dafür sprach, daß die Aktien der Firma Shigematsu, dem japanischen Monopol-Hersteller von Gasmasken, vor den Attentaten auf rätselhafte Art und Weise gestiegen waren. War also doch die Mafia im Spiel?

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen