Der letzte Tag der Karuna Moyi

Ein Dorf in Bangladesch wehrt sich gegen die Shrimpzucht / Zerstörung der Böden ist der Preis für schnellen Profit aus dem Export der Schalentiere  ■ Aus Khulna Bernard Imhasly

Dies ist die Geschichte von zwei Dörfern und einem Fluß: Magura und Harinkhola, zwei Ortschaften im südwestlichen Bangladesch, liegen keine fünfhundert Meter voneinander entfernt. Doch dazwischen fließt der Sailmari, und er trennt die beiden Dörfer in mehr als nur in einem Sinn. Dabei sind die beiden Weiler vom Fluß aus nicht einmal zu erkennen. Das Flußbett des Sailmari liegt tief unter den längslaufenden Erddämmen, und der Bootsmann muß sein Gefährt kreuz and quer an Sandbänken vorbeisteuern, um nicht im Schlamm steckenzubleiben.

Erst, als er in einen kleinen Einschnitt im angeschwemmten Löß einbiegt und unter dem Erddamm Anker wirft, werden eine Rohröffnung und Bambusgestänge zum Hochklettern sichtbar – Zeichen, daß hinter dem Damm eines der Dörfer liegen könnte.

Doch auch der Blick von der Dammkrone enttäuscht: eine graue Wasserfläche, hier und dort unterbrochen von eingesteckten Bambusstangen und naßglänzenden Ackerschollen. In der Ferne reihen sich die Hütten von Magura, ein schlängelndes Erdband von Gras und Palmen; dahinter glitzert wieder die Wasserfläche.

Die Männer, die unseren Blicken mißtrauisch folgen, stehen beim Rohreinlauf hüfttief im Wasser, die Lendentücher hochgekrempelt. Sie waschen Reusen und reinigen die in den Schlamm getriebenen dünnen Bastsiebe. Heute haben sie nur ein paar Shrimps gefangen, doch zweimal im Monat – in den Neu- und Vollmondnächten – öffnen sie die Schleuse und lassen das Wasser in den Fluß strömen.

Dann drängen sich Hunderttausende von Shrimps aus der überschwemmten Ebene in die zum Rohr führenden Schneisen, um in den Fluß zu kommen und mit der Strömung Richtung Meer zu treiben. Dieses ist zwar 150 Kilometer weit weg, aber das Delta ist so flach, daß die Flut täglich den Sailmari an Magura vorbei landeinwärts treibt und bei Ebbe das Wasser wieder zurücksaugt – das war der Grund für den tiefen Wasserstand gewesen.

Die Gezeiten machen die Shrimpkulturen möglich: Bei Hochwasser strömt das Wasser vom Fluß her in das Rohr und flutet in die weite Ebene, bei Ebbe wird die Schleuse geschlossen: Die Shrimps haben den ihnen gemäßen Lebensraum zum Wachsen. Nach sechs Monaten, wenn sie die rätselhafte biologische Programmierung durch die Mondzyklen in die Reusen treibt, können die erwachsenen Schalentiere dort leicht aussortiert werden.

Die Shrimpfischer kommen nicht aus dem Dorf. „Der Malik (Besitzer) traut den Dorfbewohnern nicht“, meint einer der Arbeiter, „sie würden die Shrimps stehlen und selbst verkaufen, sagt er.“ Für ein Kilo Shrimps von der Größe 15 (das heißt fünfzehn Stück müssen ein Kilo schwer sein) zahlt bereits der Zwischenhändler bei der Anlegestelle in Richtung der Stadt Khulna 620 Takas – durchschnittlicher Verdienst für drei Wochen Arbeit in Bangladesch.

Vor vier Jahren hatte der Malik Wajjid ein Geschäftsmann aus Khulna, von den Bauern in Magura das Land zwischen Fluß und Dorf gepachtet, für 500 Takas pro Jahr und Bigha (etwa ein Fünftel Hektar). „Die Bauern, die nicht verpachten wollten, gewann der Malik auf seine Art für sich“, klärt mich der Journalist Manik Shaha auf: „Als er den Sailmari-Damm durchstochen hatte – dies war illegal, ließ sich aber „arrangieren“ – mußten die widerspenstigen Bauern zusehen, wie ihr Land bald auch vom Salzwasser überschwemmt war.“

Einige der Anwohner versuchten sich auf eigene Faust mit Shrimpzucht. Doch gaben sie bald auf: Die Investition war zu hoch, und die Verlustrate lag bei vierzig Prozent. Bald war Wajjid alleiniger Bewirtschafter des ganzen „Gher“, der fruchtbaren Flutzone für Reisanbau zwischen dem Häuser- und Flußdamm. Den Bauern hatte er das Recht eingeräumt, im Winter ihren Amun-Reis anzupflanzen. Doch bereits im zweiten Jahr stellten sie beim Ernten einen Rückgang des Ertrags fest: die Versalzung des Bodens, vor der sie die Entwicklungsorganisation „Nijera Kori“ vergeblich gewarnt hatte, begann sich auszuwirken.

Das ist nicht das einzige Problem der Bauern von Magura: „Vor einigen Wochen kam einer von ihnen herüber“, sagt Abdul Malik in Harinkhola. „Er fragte uns, ob sie ihre Toten bei uns begraben können, da sie keinen Platz mehr haben für einen Friedhof.“ Harinkhola liegt auf der anderen Seite des Flusses, ebenfalls hinter einem Erdwall verborgen. Der Fluß ist das einzige, das beide Dörfer gemeinsam haben. Die Verschiedenheiten lassen sich schon vom Boot aus erkennen: Hier gibt es keinen Kanalausfluß, statt dessen steht hier, weithin sichtbar, ein drei Meter langes Monument oben auf dem Damm. Es schildert mit gefärbten Mosaiksteinchen einen Tag im Leben der Dorffrau Karuna Moyi – ihrem letzten: Nachdem sich die Menschen in Harinkhola geweigert hatten, dem Geschäftsmann Wajjid das ganze Gher von 1800 Bighas zu übergeben, war dieser am 7. November 1990 mit einer Gruppe Männern am unteren Ende des Dorfes angekommen. Unter dem Vorwand, das Land der wenigen vertragswilligen Bauern zu überfluten, wollte er den Damm, wenn nötig mit Gewalt, durchstechen.

Als die DörflerInnen protestierend auf Wajjid und die Gruppe von Arbeitern zugingen, fielen Schüsse. Karuna Moyi, eine ältere Frau, die den Zug anführte, fiel tödlich getroffen um; mehrere Personen wurden verletzt, darunter auch Abdul Malik. Er hat noch heute eine Verhärtung an seinem Schlüsselbein, die von einem Einschuß stammt. Unter dem Bild der protestierenden Dörfler stehend, entblößt er mit Stolz seinen Hals, denn die Schüsse hatten Wajjid an jenem Tag bewogen, das Weite zu suchen. „Die Schüsse und Shahid (Märtyrerin) Karuna haben dafür gesorgt, daß wir heute noch genug zu essen haben.“ Und, hätte er hinzufügen können, genug Platz, um die Toten zu begraben.

Gegenüber Magura wirkt Harinkhola wie ein ländliches Idyll: Hütte um Hütte schält sich aus dem dichten Grün von Palmen, Bananensträuchern und wilden Hecken heraus, und nur der Teich hinter jedem Haus und der mit Dung blankgefegte Vorplatz gestatten einen Blick zum Himmel. Hinter dem Dorf liegen die Reisfelder, ein Mosaik von Grünschattierungen, je nach dem Überflutungsgrad der einzelnen Parzellen.

Acht Bighas davon gehören Abdul Malik. Es ist nicht genug zum Überleben, sagt er, denn er hat sieben Kinder, von denen das Jüngste gleich alt ist wie sein erstes Enkelkind. „Kinder sind ein Geschenk Allahs, er wird also auch für sie sorgen.“

Aber da Allah offenbar Abdul Malik zum Werkzeug seiner Sorge auserkoren hat, muß der sich als Tagelöhner verdingen. „Aber lieber das, als sich dem Shrimpzüchter Wajjid auszuliefern“, und er erzählt, er habe vor kurzem von einem Bauern in Magura zwei Kühe übernommen, weil dieser kein Gras mehr für sie hatte.

Wie aber kann Wajjid auf der anderen Flußseite seine Shrimps züchten, wenn er den Tod von Karuna Moyi auf dem Gewissen hat? Wurde er nicht verurteilt? „Im Gegenteil“, meint Abdul Malik bitter, „er ist es, der uns vor Gericht zieht.“ Zwar haben die Bewohner von Harinkhola Wajjid angezeigt, und in Khulna wurde Anklage wegen Mordes gegen ihn erhoben. Aber der hat Gegenanzeige erstattet: gegen die Dorfbewohner, die seine Männer verprügelt hätten.

Seit drei Jahren müssen 47 Bauern regelmäßig nach Khulna reisen und sich dem Gericht stellen. „Wajjids Anwälte sorgen dafür, daß die Mordklage auf die lange Bank geschoben wird.“ Zwar bietet die Entwicklungsorganisation Nijera Kori ihnen Rechtshilfe, aber der Zweck liegt im Schikanieren. Abdul sagt, er werde morgen schon wieder nach Khulna gehen müssen – eine halbe Tagesreise weit weg, und mit dem meist vergeblichen Warten auf den Termin und der Rückfahrt sind zwei Tage verstrichen, damit das bitter nötige Einkommen von zwei Tagelöhnen.

Weshalb engagiert sich Nijera Khori für die Dorfbewohner von Harinkhola? Es ist nicht nur, weil nichtstaatliche Organisationen dort einspringen, wo die Regierung, wie so oft in Bangladesch, ihre Schutzrolle für den einzelnen vernachlässigt. In ihrem Büro in Dhaka legt Kushi Kabir, die Mitbegründerin von Nijera Khori, auch ihre Befürchtungen gegenüber der Shrimpzucht dar. Die Schalentiere haben in den letzten Jahren den ersten Platz in der Exportstatistik erobert. „Sechs Milliarden Takas pro Jahr an Deviseneinnahmen – für die Regierung eines armen Landes wie Bangladesch ist dies eine große Versuchung.“ Auch viele Bauern und Geschäftsleute reiben sich bei den Gewinnmöglichkeiten die Augen – und die Hände: Die Brut kostet zwischen ein und vier Takas pro Stück, ein ausgewachsener Black- Tiger-Shrimp kann dagegen bis zu 170 Takas einbringen.

Doch zumindest für die Bauern, die ihren Boden hergeben, sind die wirklichen Kosten in Form der Bodenverkümmerung nur aufgeschoben. Kabir zitiert eine Weltbank- studie, wonach die Versalzung nach fünfzehn Jahren so weit fortgeschritten ist, daß der Boden keine Nährstoffe mehr abgeben wird. Mit der zunehmenden Industrialisierung der Zucht in Bangladesch und im indischen Westbengalen droht auch der biologische Kreislauf zusammenzubrechen: Das Überfischen von Shrimpbrut in der Bucht von Bengalen entzieht der Fischwelt ihr wichtigstes Nahrungsmittel.

Bei der Rückfahrt von Harinkhola braucht das Boot seinen Motor nicht mehr, und es muß auch nicht mehr zwischen Sandbänken navigieren: Aus dem seichten Sailmari ist plötzlich ein Strom geworden, der flußaufwärts treibt, und wo wir am Morgen noch den Erdwall hochsteigen mußten, läßt sich das Boot ein paar Stunden später von der Dammkrone aus besteigen.

Die Gezeiten bringen mit dem Wasser nicht nur den wesentlichen Input für die Shrimpzucht ins Landesinnere. Sie lagern auch Schlamm im Flußbett ab, der das Wasser immer höher steigen läßt – und damit die Gefahr, daß starke Monsunregen oder ein Zyklon das Wasser über den Damm in die Reisfelder schwappen lassen.

Es ist das Argument, das Leute wie Wajjid gebrauchen, wenn sie überall im Deltagebiet zwischen Khulna und den Sunderbans Ghers pachten. Seine Arbeiter bei der Schleuse von Magura wiederholen dasselbe Mantra: „In zwanzig Jahren erlaubt das Salzwasser ohnehin keinen Reis und keine Fruchtbäume mehr. Schaut doch, schon heute ist das Grundwasser hier brackig. Die Bauern von Harinkhola haben einfach harte Köpfe – aber auch sie werden bald einmal umstellen müssen.“

Einer der Starrköpfe, Abdul Malik, weigert sich, daran zu glauben. „Vorläufig haben wir noch genug zum Leben ... Und zum Sterben“, fügt er hinzu, mit seinen Gedanken wohl bei den Magura-Bauern, die nicht einmal mehr ihrer Pflicht nachkommen können, ihre Toten zu begraben.