■ Interview mit Cem Özdemir (Bündnis 90/Die Grünen): „Ich will Brücken schlagen“
taz: Sie haben in Hannover in dieser Woche türkische Opfer der Anschlagserie besucht. Wie reagieren die Menschen auf die Aggression, die vermutlich von der PKK ausgeht?
Cem Özdemir: Mir wurde gesagt, ich sei der erste deutsche Politiker, der mit ihnen spricht. Die Menschen fühlten sich völlig allein gelassen. Es wird im Moment im Zusammenhang mit der Anschlagserie über alles andere ausführlich diskutiert, nur nicht über die Opfer. Auch die Menschen, die völlig zu Recht die türkische Politik kritisieren, übersehen, daß hier in der Bundesrepublik Leute von der PKK getroffen werden, die für die türkische Politik nicht verantwortlich sind. Mit ihnen sollten wir uns solidarisch zeigen. Wir müssen das Gespräch mit den verschiedenen Gruppen suchen – über den eigenen Dunstkreis hinaus. Das sage ich auch selbstkritisch an die Adresse der Grünen.
Nach rechtsradikalen Anschlägen hat die Linke sich mit nichtdeutschen Opfern solidarisch gezeigt. Warum bringt sie es hier nicht fertig?
Ich fürchte, viele sind in der Vorstellung befangen, daß die PKK eigentlich für die gerechte Sache kämpft. Wir dürfen das aber keinesfalls hinnehmen, weil das Verhalten der PKK in der Bundesrepublik allem widerspricht, wofür wir stehen. Wir können doch nicht dazu schweigen, wenn Schutzgelder erpreßt werden oder Leute von der PKK zusammengeschlagen werden, wie mir das in Hannover Opfer erzählt haben.
Was wäre durch eine deutlichere Abgrenzung von der PKK gewonnen?
Das würde die Glaubwürdigkeit bei der notwendigen Kritik der türkischen Politik erhöhen. Man macht es auch der offiziellen türkischen Seite mit ihrer Polemik gegen alle Kritiker leichter, wenn man die nötige Distanz zur PKK nicht wahrt.
Was passiert, wenn sich nun niemand um die Opfer der Anschläge kümmert?
Viele Versicherungen türkischer Läden wollen die Verträge nicht verlängern, weil sie das Risiko für zu hoch halten. Ladenbesitzer wollen Wachdienste organisieren. Mir gegenüber wurden von Betroffen schon Andeutungen gemacht, man werde selbst zurückschlagen. Wenn die Türken in Deutschland die Unterscheidung zwischen Kurden und PKK aufgeben, wird es schwer. Es gibt aber auch ermutigende Zeichen. In einem Laden, den ich besuchte, half die kurdische Nachbarsfamilie bei der Beseitigung der Trümmer. Nach der Besichtigung eines anderen Geschäfts führten die Besitzer mich in ein kurdisches Restaurant.
Hilft mehr Polizeischutz?
Natürlich muß man die Leute schützen. Aber ich bin sehr skeptisch, was die Forderung nach ständiger Polizeipräsenz und nach schärferen Gesetzen betrifft. Es ist wichtig, daß die Täter gefaßt werden. Ich wünsche mir aber nicht, daß das Zusammenleben von Deutschen und Nichtdeutschen über die Polizei organisiert wird.
Wie erklären Sie sich die türkische Intervention im Nordirak?
Das sehe ich als einen „Befreiungsschlag“, als Versuch der türkischen Regierung, von den eigenen Problemen abzulenken, die das Kabinett massiv unter Druck gesetzt haben. Aber die Menschen glauben die seit Jahren wiederholte Behauptung nicht mehr, die PKK stehe vor dem Ende.
Ist Isolierung der Türkei die richtige Antwort?
Ich würde mir da schon etwas mehr Phantasie wünschen. Das Beispiel Südafrika stimmt hier nicht. Wir müssen den Demokraten in der Türkei den Rücken stärken, damit sie sich durchsetzen, nicht „die Türkei“ bestrafen. Wir müssen bei jedem unserer Schritte fragen, ob er den demokratischen Kräften nutzt. Das kann im Einzelfall Boykott heißen, etwa in der Frage der Militärhilfe. Auf parlamentarischer Ebene müssen wir aber die Zusammenarbeit intensivieren. Es gibt Bewegung in der Türkei. Beispielsweise rücken die Unternehmer zunehmend ab von den Prinzipien des kemalistischen Staates und den Tabus der türkischen Gesellschaft. Wir wären doch völlig verblödet, wenn wir diese historische Chance nicht nutzen würden.
Warum gibt es in der Türkei so wenig Kritik an dem Vorgehen im Nordirak?
Die türkische Gesellschaft ist völlig paralysiert. Das hängt zusammen mit den Ereignissen in Istanbul, wo 30 Alewiten von der Polizei abgeknallt wurden und nur das Einschreiten der Armee noch Schlimmeres verhindert hat. Der türkische Sicherheitsapparat ist ein Staat im Staate, der sich auch der Kontrolle durch Ankara entzieht. Das widerspricht auch allen Behauptungen über inländische Fluchtalternativen in der Türkei, die Befürworter von Abschiebungen hier immer aufstellen.
Wie sieht Ankara den Abschiebestreit?
Für mich heißt die Frage: Was ist das Signal, das von einer Aufhebung des Abschiebestopps ausgeht? Es wäre eine Stärkung der Kräfte des Status quo und der Regierung Çiller. Das können doch auch die Konservativen im Bundestag nicht wollen, auch wenn sie die Gefährdung von Abgeschobenen anders einschätzen als wir.
Haben Sie selbst Kontakte zu kurdischen Organisationen in Deutschland?
Natürlich. Ich sehe meine Aufgaben darin, Brücken zu schlagen. Kurden und Türken in Deutschland geraten zunehmend in eine Situation, wo in einer Auseinandersetzung nur radikalen Kräfte übrigbleiben. Es wird zunehmend schwerer, eine vermittelnde Position einzunehmen.
Wie reagiert die türkische Gemeinde, wenn Sie sich als Vermittler anbieten?
Ich merke, daß ein großer Gesprächsbedarf besteht. Allerdings werde ich von Teilen der türkischen Presse in Deutschland massiv angefeindet. Hürriyet hat mich seit Monaten auf die Abschußliste gesetzt, bezeichnet mich als „Schwert in unserem Rücken“. Sie hat mir sogar PKK-Aktivität unterstellt. Ich vermute, daß diese Diskreditierungsversuche in Zusammenarbeit mit dem türkischen Geheimdienst in Szene gesetzt werden. Schließlich hat Hürriyet einen Onkel von mir ausgegraben, der sich vor 60 Millionen Türken für meine Politik entschuldigte.
Lassen sich die Leser davon beeinflussen?
Natürlich zeigt das Wirkung. In Hannover waren manche Türken erstaunt, daß ich gar nicht dem Bild entspreche, das Hürriyet von mir zeichnet. Aber auch innerhalb der Redaktion ist ein Streit über meine Rolle ausgebrochen. Der Chef der türkischen Ausgabe lobt mich, weil ich der Türkei den Spiegel vorhalte, der Chef der europäischen Ausgabe bekämpft mich. Dieser Streit ist ein Spiegelbild des gesellschaftlichen Zustandes in der Türkei und zeigt, daß wir für unseren Kurs in der Türkei und bei den hier lebenden Menschen mit türkischem Paß um Anhänger werben müssen. Interview: Hans Monath
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen