Moskaus Endlösung für Tschetschenien

Der Krieg eskaliert, und Rußlands umstrittener Verteidigungsminister Gratschow hat die Zügel wieder fest in der Hand / Russische Großoffensive nach der Einnahme Arguns  ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath

Der Völkermord in Tschetschenien gerät in Vergessenheit. Russische Medien berichten täglich und sind bemüht, die russische Öffentlichkeit zu sensibilisieren, doch eine Mauer aus Gleichgültigkeit oder aber Angewidertsein steht ihnen gegenüber. Im Kampf um die tschetschenische Hauptstadt Grosny starben, so gestern die russische Menschenrechtskommission, 24.000 Zivilisten; die Zeitung Iswestija veröffentlichte das Foto eines Massengrabes in Grosny. Zig solcher Gräben soll es mittlerweile geben, streng bewacht von russischen Einheiten. Der Kommentar eines orthodoxen Priesters, der in die Schlacht ziehende Soldaten segnet: „Den Feind töten – eine heilige Sache“. Wenn es nötig ist, greift er „mit Vergnügen“ selbst zur Waffe.

Nachdem russische Einheiten der Gruppe „Nord“ am Donnerstag die Stadt Argun 25 Kilometer südöstlich Grosnys einnahmen, hat gestern tschetschenischen Angaben zufolge der Sturm auf Gudermes begonnen. Die östlich gelegene zweitgrößte Stadt Tschetscheniens war zusammen mit Argun und Schali Zufluchtsort der tschetschenischen Freischärler nach dem Fall von Grosny. Die Widerstandskämpfer in Argun konnten die Stadt in letzter Minute verlassen. Frauen, Kinder und Verletzte, versicherte der Sprecher des tschetschenischen Präsidenten Dschochar Dudajew, Mowladi Udugow, seien über Nacht evakuiert worden.

So arbeiten sich die Russen langsam aber sicher vor. Russische Militärkreise verbreiten Optimismus und behaupten, der ganze Krieg könne bis Mai beendet werden. Der Erfolg in Argun hat Truppen für den Sturm auf die letzten tschetschenischen Bastionen in der Ebene, Schali und Gudermes, freigemacht, deren Bombardierung durch die russische Luftwaffe bereits begonnen hat. Eine „Aktivierung der Kriegshandlungen“ in dieser Region hatte Rußlands Verteidigungsminister Pawel Gratschow bereits Ende letzter Woche angekündigt. Der anfangs erfolglose und in die Schußlinie öffentlicher Kritik geratene Gratschow scheint am Ende als unbescholtener Sieger aus dem Konflikt hervorzugehen. Im Februar hatte Präsident Jelzin, um der Welt seine Friedensbereitschaft zu beweisen, den Einsatz der Armee für abgeschlossen erklärt und das Innenministerium mit der Erledigung des tschetschenischen Feldzuges beauftragt – Gratschow trat in den Hintergrund. Mit dem rascheren Vorrücken russischer Einheiten aber drängt er sich offenbar wieder nach vorn. Ohnehin war die formale Kommandoübertragung an das Innenministerium nicht mehr als ein taktischer Zug. Nie wurde die Armee aus den Kriegshandlungen herausgezogen.

An einer politischen Lösung des Konfliktes hat die russische Seite trotz aller gegensätzlichen Bekundungen kein Interesse. Gratschow spricht von einer endgültigen „Vernichtung“ der vermeintlichen kriminellen Banden. Im zerbombten Grosny sind dagegen Aufräumarbeiten angelaufen. Rußlands politische Elite gibt sich Mühe, die „Befriedung“ als erfolgreich hinzustellen und bekundet ihre Bereitschaft zur „Normalisierung“ des tschetschenischen Lebens – doch nur ein verschwindend kleiner Teil der Bevölkerung Grosnys heißt die russischen Truppen als Befreier willkommen. Intern wird unverändert vor Scharfschützen und nächtlichen Hinterhalten gewarnt. Gratschow scheint darauf zu spekulieren, daß die für den Wiederaufbau bereitgestellten Mittel zunächst in die Taschen der Armee fließen.

Im „näheren und weiteren Umkreis Dudajews“ sollen sich mittlerweile Spaltungstendenzen zeigen, berichtet die Nesawissamaja Gaseta. Ein Teil seiner Streitmacht habe begriffen, daß sich die Kampfbedingungen nur noch verschlechtern können und suche nach Auswegen, dem Inferno zu entkommen. Entschiedene Kämpfer schlössen sich dagegen „Todesbataillonen“ an.

Lew Ponomarew, Abgeordneter der russischen Staatsduma, traf sich kürzlich mit Dudajew und berichtete, der tschetschenische Präsident sei zu neuen Gesprächen mit Moskau ohne Vorbedingungen bereit. Ponomarew warnte den Kreml, Verhandlungen mit Dudajew nicht auf die lange Bank zu schieben, da diesem die Lage immer weiter außer Kontrolle gerate: „Im Mai“, mutmaßte der Abgeordnete, „verliert er völlig den Zugriff auf die ihm unterstellten Einheiten“.

Unabhängig vom Ausgang des Krieges werden russische Soldaten noch lange in Tschetschenien stationiert bleiben. Der Haß auf die Russen wächst unaufhaltsam. Doch zunächst hat Rußlands Führung eine Bataille gewonnen: Der Westen schweigt. Zur 50-Jahrfeier des Sieges über Hitler sagten alle eingeladenen Staatschefs – nach anfänglichem Zögern – ihr Erscheinen in Moskau zu, sollte der Kreml auf die geplante Militärparade verzichten. Die findet nun an einem anderen Ort der Hauptstadt statt. Und vielleicht haben die Staatsführungen die Gelegenheit, am 9. Mai gleich den Sieg über das kleine Tschetschenien mitfeiern zu können.