Prototyp einer europäischen Polizei

■ Der Schlagbaum verschwindet auch für die Polizei, mit dem Schengener Informationssystem wird Europa nach und nach zum einheitlichen Fahndungsgebiet

Die Parole war schnell gefunden: „Keine freie Fahrt für Kriminelle“! Mit dem Wegfall der Grenzkontrollen, da sind sich Polizisten und Innenpolitiker der Schengener Vertragsstaaten seit Jahren einig, darf es keinesfalls zum grenzenlosen Verkehr für das internationale Verbrechen kommen. Scheinbar plausibel wurde und wird argumentiert: Der Grenzabbau führt zum Sicherheitsverlust, und diesem Sicherheitsverlust muß mit „Ausgleichsmaßnahmen“ begegnet werden. Das Herzstück dieser Ausgleichsmaßnahmen trägt den Namen „Schengener Informationssystem“ (SIS).

Zuletzt warnte am Donnerstag der Bund Deutscher Krimalbeamter: Wenn am Sonntag der Schengener Vertrag in Kraft tritt, dann muß mit „markanten Auswirkungen auf die Kriminalitätsentwicklung“ gerechnet werden.

So wird es nicht kommen, denn von einem Sicherheitsverlust durch den Abbau der Personenkontrollen kann keine Rede sein. Bereits vor knapp fünf Jahren referierte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble vor dem Wiesbadener Bundeskriminalamt: „Die Erfahrung zeigt, daß das Instrument der Grenzkontrolle gegenüber organisierter Kriminalität nur eingeschränkt wirksam ist.“ „Der Schlagbaum“, so der damalige Minister, „ist kein besonders intelligentes Fahndungsinstrument.“

Ziel der „Ausgleichsmaßnahmen“, auf die sich die Erstunterzeichnerstaaten des Schengener Abkommens am 19. Juni 1990 verständigten, ist denn auch der Einstieg in eine völlig neue Form der polizeilichen Kooperation. Mit dem Wegfall der Binnengrenzen wird das Gebiet der Schengener Vertragsstaaten zu einem Fahndungsraum. Eine „wirkliche und durchgreifende Neuerung“ für den Regierungsrat im Bonner Innenministerium, Joachim Sturm. Der Regierungsrat wagt auch schon einen Ausblick. Die Schengener Staaten hätten sich bereit erklärt, das SIS den anderen Mitgliedsstaaten der EU zur Verfügung zu stellen. „Dadurch“, so Sturm, „soll erreicht werden, daß in Europa nur ein einziges Informationssystem im Bereich der Grenzkontrolle sowie der Fahndung und Verfolgung von Straftaten eingesetzt wird.“ Perspektivisch könnte das Schengener Informationssystem dann in ein in der EU bereits andiskutiertes „Europäisches Informationssystem“ überführt werden.

Das SIS ist ein computergestütztes Erfassungs- und Abfragesystem zur Personen- und Sachfahndung. Es besteht aus einem Zentralrechner in Straßburg (CSIS) und aus sternförmig vernetzten nationalen Informationssystemen (NSIS). Der Rechner der Bundesdeutschen wurde im BKA installiert. Sowohl im Zentral- als auch in den nationalen Systemen werden Personen- und Sachdaten gespeichert, die zu Fahndungen, Festnahmen und Aufenthaltsermittlungen verwendet werden. Ermöglicht werden sollen damit auch gezielte Kontrollen und die „Einreiseverweigerung ausgeschriebener Drittausländer“. Geklaute Autos werden ebenfalls registriert. Wenn das System am Sonntag gestartet wird, kann es bereits auf zwei Millionen Personen- und Sachfahndungsdatensätze zurückgreifen. Die Maximalauslastung des Systems wird mit der Summe von etwa neun Millionen Datensätzen angegeben.

Komplettiert wird die Technik des Schengener Informationssystems jeweils durch nationale Stellen, die „alle im Schengener Durchführungsübereinkommen beschriebenen fahndungsrelevanten Informationsbeschaffungs-, Informationsübermittlungs- und Koordinierungsaufgaben im Zusammenhang mit einer Ausschreibung im SIS wahrzunehmen haben“. Diese Stellen heißen „Sirene“ (Supplementary Information Request at the National Entry). Ihnen wird die Kontrolle oder Festnahme einer Person, oder die Sicherstellung einer gesuchten Sache gemeldet. Sie sollen in kürzester Zeit weitere Informationen übermitteln können, um beispielsweise eine Auslieferung zu ermöglichen.

Mit dem SIS werden die Grundlagen für eine europäische Polizei unterhalb der Schwelle der Aufgabe von nationalen Souveränitätsansprüchen gelegt, auch wenn die grenzüberschreitenden Ermittlungen auch künftig nicht völlig reibungslos funktionieren werden. Das hat, wie der BKA-Referatsleiters Jörg Wolters beklagt, seinen Grund: „Im Vertragswerk zu vermutende Unklarheiten oder Unschärfen sind nicht die Folge eines Übersehens, sondern – um das Vertragswerk abschließen zu können und in der Hoffnung auf eine spätere Klärung – bewußt so im Kompromißweg akzeptiert worden.“ Wolfgang Gast