Kein Herz für Kinder in Washington

US-Repräsentantenhaus für faktische Abschaffung des Sozialhilfesystems / Leidtragende sind alleinerziehende Mütter und ihre Kinder / Vorlage der Republikaner  ■ Aus Washington Andrea Böhm

John Mica, Abgeordneter aus dem US-Bundesstaat Florida, hatte Bildmaterial zur Parlamentsdebatte mitgebracht. Inmitten seines Redebeitrags zur „Reform“ des Sozialhilfesystems hielt der Republikaner seinen verdutzten Kollegen ein Schild mit einem Alligator und der Aufschrift „Bitte nicht füttern“ entgegen. „Füttern macht Alligatoren abhängig“, erklärte der Abgeordnete. „Sie können plötzlich nicht mehr allein überleben.“ Gleiches, so Mica, gelte für Sozialhilfeempfänger. Mit dem herrschenden System der Sozialhilfe „wird Abhängigkeit geschaffen“ und „die natürliche Ordnung gestört“.

Geht es nach der Mehrheit des US-Repräsentantenhauses, dann haben es Alligatoren bald besser als die rund 5 Millionen Familien – überwiegend alleinerziehende Mütter und ihre Kinder –, die derzeit in den USA Sozialhilfe beanspruchen. Am Freitag stimmte die Parlamentskammer mit einer Mehrheit von 234 zu 199 Stimmen für die faktische Abschaffung jenes Sozialhilfesystems, das sechzig Jahre zuvor von Präsident Franklin D. Roosevelt in der Ära des „New Deal“ begründet worden war. „Personal Responsibility Act“ (Gesetz zur persönlichen Verantwortung) heißt der entsprechende Entwurf, einer der ideologisch wichtigsten Punkte jenes „Vertrages mit Amerika“, den die Republikaner um den Vorsitzenden des Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, als Quasi-Parteiprogramm durchzusetzen versuchen. Die Gesetzesvorlage muß nun im Senat diskutiert und abgestimmt werden. Die Senatoren werden voraussichtlich einige Passagen verändern, ohne jedoch an den grundlegenden Bestandteilen zu rütteln.

Was da von den Konservativen als „Ende des Wohlfahrtsstaates“ und Aufbruch in die „Chancengesellschaft“ gefeiert wird, ist in den Augen vieler Demokraten ein rabiater Kahlschlag. Der „Personal Responsibility Act“ würde die von Roosevelt etablierte Kompetenz des Bundes abschaffen, ein national einheitliches Mindestmaß an sozialer Hilfe für Bedürftige zu garantieren. 40 Bundesprogramme, darunter die „Finanzhilfe für Familien mit abhängigen Kindern“, das fast ausschließlich alleinerziehende Mütter in Anspruch nehmen, sollen gestrichen und durch sehr viel geringere Pauschalzahlungen des Bundes an die Einzelstaaten ersetzt werden. Wie dieses Geld verwandt wird, bleibt diesen weitgehend selbst überlassen.

Der zentrale Punkt des Entwurfs aber ist: Bedürftige haben – mit der Ausnahme von Lebensmittelmarken – keinen Anspruch mehr auf Sozialhilfe, selbst wenn sie alle Kriterien erfüllen. Sind die Pauschalsummen des Bundes und die Sozialhilfetöpfe der Einzelstaaten erst einmal ausgeschöpft, wird nichts mehr bezahlt. An diesen beiden Punkten – Abschaffung der Bundeskompetenz und Verlust des individuellen Anspruchs – wird aller Voraussicht nach auch der Senat nichts ändern. Nach Berechnungen des „Congressional Budget Office“, des parlamentsinternen Forschungsdienstes, wären 2,8 der 5 Millionen Familien, die derzeit Sozialhilfe beziehen, von Kürzungen oder der kompletten Streichung ihrer Hilfe betroffen.

Darüber hinaus sollen Sozialhilfezahlungen auf maximal fünf Jahre begrenzt werden; innerhalb der ersten zwei Jahre müßten SozialhilfeempfängerInnen wieder einen Arbeitsplatz vorweisen. Im Gegensatz zum Reformvorschlag der Clinton-Administration, der ebenfalls eine zeitliche Begrenzung der Zahlung und eine Arbeitsverpflichtung vorgesehen hatte, enthält der „Personal Responsibility Act“ weder Hilfen zur Ausbildung und Kinderbetreuung noch zur Krankenversicherung.

Der „Personal Responsibility Act“ zielt gegen jene Gruppen in der Bevölkerung, denen im herrschenden konservativen Klima die klassische Sündenbockrolle zugewiesen wird: legal in den USA lebende Immigranten und minderjährige Mütter mit unehelichen Kindern. Erstere würden einen hohen Preis für die avisierten Einsparungen (69 Milliarden Dollar über die nächsten fünf Jahre) zahlen: Sie würden jeden Anspruch auf finanzielle Sozialhilfe, Lebensmittelmarken sowie „Medicaid“, das Krankenversicherungsprogramm für Bedürftige, verlieren.

Unverheirateten Müttern unter 18 Jahren käme überhaupt keine Hilfe mehr zu. Dies, so die Argumentation, würde Teenagern den Anreiz nehmen, uneheliche Kinder in die Welt zu setzen. An diesem Punkt sah sich die Parteiführung der Republikaner letzte Woche plötzlich mit unerwartet starkem Widerstand konfrontiert. Die katholische Kirche und Antiabtreibungsgruppen mobilisierten nach Kräften gegen diesen Absatz, weil nach ihren Befürchtungen die Zahl der Schwangerschaftsabbrüche steigen würde.

In der amerikanischen Öffentlichkeit wächst Unmut über die Kürzungsorgien im Kongreß – vor allem wenn es um Kinder geht. Daß dem „Personal Responsibility Act“ auch die staatliche Schulspeisung und die Ernährungsprogramme für Schwangere und Kleinkinder zum Opfer fallen könnten, hat aus den selbsterklärten Helden der „republikanischen Revolution“ in den Augen vieler herzlose Kinderfeinde gemacht.