Hauptstadt im Klima-Fieber

Selbst Versicherungen und Bürgermeister glauben nicht mehr an Ergebnisse des Klimagipfels / Punk-Band ist deutlicher: „Ihr seid Scheiße“  ■ Aus Berlin Christian Arns

Berlins Landesregierung mußte gestern nachmittag noch zittern: Starker Wind ließ Zweifel aufkommen, ob der Artist Alfredo Traber auf sein Drahtseil steigen und vom Fernsehturm am Alexanderplatz 620 Meter zum Berliner Dom balancieren würde. Eine Absage wäre verständlich gewesen, denn Traber sollte in 50 Meter Höhe und ohne Sicherung laufen, doch für den Senat wäre die Blamage perfekt gewesen: Bis auf die Ausstellung „Global Change“, die in dieser Woche von Bonn nach Berlin umzieht, ist keine andere spektakuläre Veranstaltung des Berliner Rahmenprogramms mehr übriggeblieben. Publikumsträchtig sollte nun wenigstens Traber „die Gratwanderung der Menschheit zwischen Natur und technischer Entwicklung“ symbolisieren. 2,7 Millionen Mark kostet die „Klimabalance“, finanziert wird sie von der Lotto-Gesellschaft.

Superlative sollten her in der Hauptstadt, knapp zwei Tage vor der offiziellen Eröffnung des UNO-Klimagipfels: Das Kostüm, eine Art blauweiße Sträflingshose mit dem roten Jäckchen eines Pagen, entwarf Designer Wolfgang Joop. Die Musik, eine sogenannte „Klimasinfonie“, komponierte Peer Raben, der auch die Musik zum Fassbinder-Film „Berlin Alexanderplatz“ geschrieben hat.

Die eigentliche Performance aber fand bereits am Samstag abend statt: „Der Wald“ hieß die fast fünfstündige Veranstaltung verharmlosend, bei der die Teilnehmer des Jugend-Künstler-Klimagipfels phantasievoll verschiedene Zivilisationsstufen darstellten. Die Jugendlichen entkleideten dazu viele ihrer verblüfften Gäste fast vollständig, schmierten sie mit matschigen Farben ein oder konfrontierten sie überraschend mit modernster Multimediatechnik. Und während die einen aus Lehm ein Haus bauten, brüllte die Punk-Band auf der Bühne ihre deutliche Botschaft an die Regierungsvertreter beim UNO-Gipfel: „Ihr seid Scheiße!“

Konstruktivere Denkhilfen erarbeiten Fachleute bei mehreren anderen internationalen Treffen, die ebenfalls in Berlin stattfinden: Schon am Wochenende trafen sich besorgte Vertreter führender Versicherungsunternehmen. Sie befürchten, daß die häufiger werdenden Naturkatastrophen ihr Gewerbe in den Bankrott treiben könnten. Seit gut fünf Jahren appellieren daher einige von ihnen an ihre nationalen Regierungen, das Klima wirklich zu schützen. Über konkrete Möglichkeiten vor Ort debattieren ab heute Bürgermeister aus über 100 Städten im Schöneberger Rathaus. Neben dem wechselseitigen Austausch stehen Forderungen an den UNO- Gipfel im Vordergrund, an den die Erwartungen von Tag zu Tag abnehmen. Nationale Rahmenbedingungen seien dringend erforderlich, um den Ausstoß des Treibhausgases Kohlendioxid (CO2) drastisch zu senken, so Erich Haider vom Vorstand des Klimabündnisses europäischer Kommunen mit den Völkern Amazoniens: „Es geht nicht, daß immer global gedacht, lokal gehandelt und national abgewartet wird.“ Das Klimabündnis-Ziel ist ehrgeizig: Die Halbierung des CO2-Ausstoßes bis zum Jahr 2010.

In zahllosen Aktionen werden in den beiden nächsten Wochen die Vertreter der Nichtregierungsorganisationen (NGOs) zeigen, wie wenig sie an diese Selbstverpflichtung der Städte und den Handlungswillen der Nationen glauben. „Rio is not enough“ ist der Titel der NGO-Eröffnungskonferenz, bei der die Ziele festgelegt werden sollen, die der UNO- Gipfel ohnehin nicht erreichen wird. Massive Kritik wird vor allem an der Verkehrspolitik der Industriestaaten und an der ungebremsten Verbrennung fossiler Energieträger wie Kohle und Erdöl geübt. Größte Aktion soll eine Fahrradsternfahrt am autofreien Sonntag werden, zu der die NGOs über 100.000 Radler erwarten. Initiativen aus Berlin und Umgebung haben zudem zu einer Großdemonstration am Samstag aufgerufen, die konkrete Ergebnisse vom UNO-Gipfel fordert. Entschieden gegen den Gipfel der „Herren der Welt, eingeflogen mit Kerosin-Hochleistungsflugzeugen“, sind autonome Klimaschützer, die zur gleichen Zeit an den gleichen Platz zu einer Demo mit gänzlich anderem Ziel aufrufen: „Smash the UN climate summit!“

Statt diesen zu sprengen, möchte der Naturschutzbund lieber ein weiteres Thema auf der Tagesordnung des Gipfels sehen: den Schutz der nördlichen Nadelwälder Rußlands, Nordamerikas und Skandinaviens. Sie bedecken rund ein Zehntel der Erdoberfläche und spielen so eine entscheidende Rolle fürs globale Klima. Ihr Schutz ist daher Thema einer Konferenz des Naturschutzbundes.