Sanssouci: Vorschlag
■ Eine Trilogie dieses Jahrhunderts: „Fahrtenbuch“ von Alexander Stillmark und Georg Katzer im Hebbel-Theater uraufgeführt
„Am Brunnen vor dem Tore, da steht ein Lindenbaum“, singt ein Chor aus dem Off. Doch der heitere Gesang währt nicht lange. Störgeräusche dringen durch: Flugzeuglärm, Pferdegewieher, Marschmusik. Gleichzeitig stehen in einer durchsichtigen Kabine fünf Männer vor Emailleschüsseln. Unendlich langsam entkleiden sie sich. Eine Waschzeremonie in Zeitlupe beginnt.
Das „Fahrtenbuch“ von Alexander Stillmark und Georg Katzer beginnt mit einer zweifachen Reminiszenz. Denn der erste Teil der szenischen Uraufführung, „Aide-mémoire“, ist nicht nur ein Blick zurück zu den „Alpträumen der tausendjährigen Nacht“, sondern selbst bereits ein Zeitdokument. 1983 vom Rundfunk der DDR produziert, entstand „Aide-mémoire“ als Hörstück, als eine Sammlung von Originaltönen aus dem Dritten Reich, die von Katzer mit der Schere zu einer wüsten Montage verarbeitet wurden, Ansprachen des „Propagandaministers“ Joseph Goebbels, Musik von Richard Strauß oder Franz Liszt, der Jubel des Volkes. Doch obwohl die O-Töne durch elektroakustische Geräusche, durch das Blubbern des Ringmodulators oder die verzerrende Stimme des Vocoders zerstört werden, scheint durch sie hindurch noch immer die grauenhafte Faszination einer Musik und Sprache, die agitatorisch in Dienst genommen wurde.
„Aide-mémoire“: Waschzeremonie in Zeitlupe zu Flugzeuglärm, Marschmusik und Pferdegewieher Foto: David Baltzer/Sequenz
Diesen grell verstörenden Lauschangriff kontrapunktiert Stillmark mit einer rituellen Waschung. Durch die Langsamkeit der Bewegungen gewinnt jedoch selbst die abgehalfterte Symbolik des Reinwaschens eine völlig neue Dimension. Stillstand inmitten der akustischen Mobilmachung, Tatenlosigkeit bei fortwährender Agitation – in Szene gesetzte Reaktion auf die fortwährende Drangsalierung durch Sprache und Musik.
Im zweiten Bild, „Visions“, sitzen auf der Bühne zwei Männer, an Stühle gefesselt und mit zugeklebten Augen. Hinter einem Plastikvorhang sitzen Zuschauer, die ihnen den Rücken zuwenden. Adolf Eichmann, der millionenfache Mörder, schwadroniert über die Ordnung des Universums, über Milchstraßen und darüber, wie klein der Mensch doch sei angesichts dieser göttlichen Allmacht. Der israelische Schriftsteller Ka-Tzenik, der Hölle von Auschwitz entkommen, erzählt die Geschichte eines Freundes im Konzentrationslager. Eichmanns Rede ist rationalisiertes Gequassel, abstrakte und zynische Rede, vor deren Hintergrund die Erzählung Ka-Tzeniks um so grauenhafter erscheint. Die Montage dieser beiden Texte stellt den Zusammenhang zwischen dem Schicksal des Individuums und der organisierten Massenvernichtung eindringlich her und läßt ahnen, daß Sprache und Gewalt zwei gar nicht so unterschiedliche Mittel sind.
Diese Ahnung kulminiert im dritten Bild, das direkt in die Gegenwart fährt. Der zugrunde gelegte Text: „Aus einem alten Fahrtenbuch“ von Durs Grünbein ist eine ergreifende Analyse der menschlichen Zurichtung durch Sprache. „...sitzend im Panzer der Sprache, fahren bis an die vordersten Linien des Draußen, dorthin, wo das Gemetzel beginnt.“ Zunächst erscheint Sprache wie ein Schutzschild, hinter dem sich Identität versteckt und in deren Schatten die Seele ihre Füße baumeln lassen kann. Doch die Schutzfunktion schlägt um. Aus dem Versteck wird eine Bastion, ein Hinterhalt, aus der rationalisierten Sprache ein Instrument der Herrschaft, das schließlich zur Gewalt wird.
Diese Metamorphose wird von Alexander Stillmark und Georg Katzer kongenial und sparsam inszeniert. Die Bühne ist schwarz. Sieben grell erleuchtete Fenster zeigen sieben Menschen, sieben Monaden, sieben Selbstinszenierungen wie auf Fotos gebannt. Die instrumentale Musik changiert zwischen Geräusch und Unterhaltungsfloskeln mit einem Instrumentarium, das auch einen aufgeblasenen Müllsack einschließt. Zwar bleibt sie meistens illustrativ, doch die hauptsächliche Leistung liegt ohnehin bei der Musikalisierung der Sprache, welche die Ausdruckskraft des Textes bricht, ihm durch lautmalerische Hervorhebungen neue Bedeutungsebenen erschließt oder die wortgewaltige Ernsthaftigkeit der Sprache durch komische Szenen erleichtert.
Im 20. Jahrhundert wurde Sprache als Mittel der Herrschaft pervertiert wie nie zuvor. „Fahrtenbuch“ ist eine Trilogie dieses Jahrhunderts, in welcher in den unterschiedlichsten Bildern Ohnmacht und Gewalt der Sprache eindringlich erfahrbar werden. Christine Hohmeyer
„Fahrtenbuch“, Regie: Alexander Stillmark, Musik: Georg Katzer, Bühne: Jürgen Müller, mit Texten von Durs Grünbein; weitere Aufführungen noch heute und morgen, jeweils 20 Uhr, im Hebbel-Theater, Stresemannstraße 29, Kreuzberg
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