piwik no script img

Jubelfordernde Fülle der Null

Der Bundespräsident ist dabei, der Bundeskanzler auch, nur Herr Hochhuth muß wegen Herrn Filbinger und nachfolgender Protokollfragen leider draußen bleiben. Ein festliches Stimmengewirr vom Jüngergeburtstag, aufgeschnappt  ■ von Jörg Lau

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir sind heute hier zusammengekommen, um den hundertsten Geburtstag des deutschen Schriftstellers Ernst Jünger zu feiern, im folgenden auch Centenarius genannt.

Lassen Sie mich daher folgende Bemerkung vorausschicken: Aus dem Faktum des Zusammentreffens der im Orient erfundenen Null mit dem Ordnungsbedarf der Geschichtsschreibung ist die Bedeutsamkeit der Jahrtausende und Jahrhunderte entstanden: die Null, die in der dekadischen Notation die Unwertigkeit einer „Stelle“ im Zahlenverband bezeichnet, erhebt in der Reihung eine kontingente Größe zur jubelfordernden Fülle. Wie groß muß also unser Jubel erst sein, wenn, wie im Falle unseres Centenarius, gleich zwei Nullen sich reihen und gleichsam schreiten Seit' an Seit'. Um so mehr noch, als das gelebte Jahrhundert keine anderen Zeugen hat als den Hochbejahrten, dem alle anderen mit Verspätung begegnen. Was er preisgibt, macht ihn zum Mandatar der annähernden Zeitgenossen; was er für sich behält, bleibt im Vorbehalt der Hypothese. Das erfüllte Jahrhundert, dem er „Gestalt“ gibt, ist nur eine Phrasierung für die Ratlosen, die dem Zeitfluß ausgeliefert sind.

Muß ich noch hinzufügen, daß wir diese Ratlosen sind? Aber ich merke soeben, ich schweife ab, die Zeit läuft uns davon, tempus fugit, wie der Lateiner sagt, verehrte Anwesende. Wie gut ist es da zu wissen, daß aber noch der Centenarius unverwandt daran arbeitet, die Vergänglichkeit zu „verwinden“!

Aber zurück zum Thema. Was wir vom Centenarius erwarten, ist Bürgschaft für ein wenig mehr des gesuchten Sinnes der Dinge. Oder konkreter gesagt, was einer seit wilhelminischer Kindheit, dann als Stoßtruppführer in „Stahlgewittern“ von der Weltzeit mitbekommt, läßt ihn über Jahrzehnte und Jahrzehnte nicht los. Folgt das einem Sinn, einem Plan gar? Oder ist es vielleicht doch bloß Bewegung ins Chaos, in den ziellos wachsenden Unverstand?.

Da kann man schon ordentlich ins Grübeln kommen! Schauen wir uns nur um: Die „Komfortlandschaften“ der elektrisch optimierten Welt haben den schmerzfreien Raum ermöglicht. Wir leben in schallgedämmten und warmluftgespeisten Wohnräumen; kommunizieren miteinander mittels Drähten und Apparaturen, die Gesichter ersetzen und Gerüche negieren. Anders bekanntlich immer schon der Centenarius, hat er doch, noch nicht 25, mehr als ein dutzendmal die Grabenlandschaft des Stellungskrieges verwundet verlassen. Das ist bekannt, das ist Geschichte. Schwamm drüber. Aber nicht nur im Schützengraben nahm er als junger Mann, dem die natürliche Gabe der Angst offensichtlich versagt worden ist, den Kampf mit der schmerzminimierenden Maschinenwelt auf. Noch an einem vielleicht zu Unrecht der sozialen Sekurität zugerechneten Ort, in der Badewanne (Marat!, Barschel!), führt er bis auf den heutigen Tag seinen allmorgendlichen kleinen – wenn auch den Blicken der Öffentlichkeit verborgenen, so doch kaum weniger spektakulären – Widerstand fort gegen jenes unheilige Ideal der Schmerzlosigkeit des modernen Menschen. Und das ohne große Worte, durch ein schlichtes kaltes Bad trotzt er unserer welschen Weichlingswelt des lauwarmen wash and go und schlägt in aller Herrgottsfrühe dem zunehmenden Verlust der Schmerzempfindlichkeit des modernen Menschen ein Schnippchen. Wir wissen, daß sich an des Centenarius' kalter Passion auch mit dem heutigen Tage nichts ändern wird, an dem die Verweichlichung verführerisch mit der Demontage des Stromzählers lockt.

Lange genug ist das kalte Bald bei der Entzifferung des Eigensinns des Solitärs Jünger vernachlässigt worden. Unverständlich eigentlich, schließt sich doch von hier aus der Bereich der Innerlichkeit auf, in dem dieser Versprengte lebt, sein Aristokratismus, der Sinn für noble Gelassenheit in allen Lagen, im Glück wie im Unglück, mit der sich die Deutschen, wie es einmal heißt, so schwertäten, daß ein Wort wie „gracious“ unübersetzbar sei. Centenarius' vielgerühmter kalter Blick auf Menschen und Mächte (H. Schmidt) – ohne das kalte Bad, die These sei gewagt, hätte es ihn nie gegeben! Unser Laureatus ist berühmt für seine „désinvolture“ – eine Maxime, die Selbstzucht, Distanz, Heiterkeit und Geistesgegenwart zum Prinzip gewappneter Überlegenheit verbindet – hat man schon erlebt, daß dergleichen aus einem lauwarmen Schaumbad aufsteigt? Und hieße es den Bogen überspannen, wenn man im kombinatorischen Schluß das allmorgendlich-männliche Badegeschehen im kühlen Arkanum der Wilflinger Oberförsterei mit jener kühlen, ungerührten Wahrnehmung in Verbindung brächte, wie sie Ernst Jünger unablässig vorgehalten wird, sein Abstand zu den Ereignissen, der womöglich seine Art war, die Schrecken der Zeit auszuhalten und ihnen zwar nicht den Abscheu oder, wie es verschiedentlich heißt, den „Ekel“, wohl aber den Aufschrei zu versagen? Das war der Tribut, den er nicht leistete.

Über seine Haltung zum Widerstand, zu den von der Schulenburg, Speidel e tutti quanti ist genug gesagt worden. Nur soviel noch: Centenarius gehörte zwar nicht dazu, übertraf sie aber alle an Widerständigkeit, indem er Widerstand noch dem Widerstand selber widerfahren ließ und, wie bereits erwähnt, den Schrecken der Zeit frechweg den Aufschrei versagte. Man wird dies eine Dialektik der Revolte nennen dürfen. Und nicht nur diese hat Centenarius entdeckt: Jünger, der Freigeist, hat auch ein unfreies Verhältnis zur Freiheit, in der Regel gar keines.

Kein anderer als der Centenarius war es, der als erster spannte, daß mit der Beseitigung Hitlers nichts gewonnen gewesen wäre, weil die Überwindung der „Vernichtungswelt“ nicht auf der politischen oder historischen Ebene gelingen konnte. Vor seinem geschichtsphilosophisch geweiteten Blick wogen solche Gewaltakte nichts, dergleichen blieb im Episodischen, während die wirklichen Veränderungen in Abläufen mit riesiger, vom großen „Bauplan“ verhängter Amplitude stattfanden.

Das bringt uns zu der uralten Frage, ob der einzelne Schriftsteller irgendwie politisch zu wirken vermag. Man hat sie schon bei den Vorfahren der großen Französischen Revolution, bei Voltaire, Rousseau, dem Revolutionär Condorcet und recht vielen anderen erlauchten Geistern nicht beantworten können. Nur hinkt dieser Vergleich, und noch dazu auf einem Bein, und kann schon deshalb unseren Centenarius nicht erreichen, der aus 2 Weltkriegen aufrechten Gangs mit je 2 vollständigen Beinen zurückgekehrt ist.

Eine Frage muß, trotz oder gerade wegen des heute gängigen „Gesinnungsgebells“ (H. Schwilk) von links, erlaubt sein: Laßt uns einmal naiv fragen. Hätte es den Kriegsverherrlicher und Pour le mérite-Träger Ernst Jünger, den Philosophen Martin Heidegger, den Staatsrechtler Carl Schmitt nicht gegeben: Hätte Adolf Hitler seinen Krieg 1939 nicht begonnen? Die Antwort könnte verblüffen.

Aber das ist eigentlich kein Thema für einen solchen Anlaß, und deshalb sei hier nur noch einmal kurz auf die vom Bauplan vorgeschriebenen Riesen-Amplituden des Verhängnisses in diesem unserem Jahrhundert verwiesen. Wobei man freilich immer gewahr bleiben muß, daß die Zeitläufte gelegentlich recht zudringlich werden konnten, was verständlicherweise dem Schriftsteller einer Minderheit, der mit ungeheurem, ins Träumerische entrücktem Gleichmut seine Pronunziamentos verkündete, gehörig gegen den Strich ging. Die Kälte und Menschenferne des Beobachters gewannen jedoch im Begriff der désinvolture den gleichsam moralischen Grund und ließen sich dann sogar als die eigentliche, der höheren Warte vorbehaltene Moral verstehen. Und je zudringlicher und unruhiger die Zeit wurde, desto mehr sah er darin eine Möglichkeit, sich ihren tausend Bedrängnissen zu entziehen.

Nun gut, manches, das dieser Haltung entsprang, erscheint uns Heutigen nicht mehr ganz koscher, zuweilen gar mit dem Wesen demokratischer Ordnungen schwerlich zu vereinbaren, unzeitgemäß im Politischen. Sein Rang aber bleibt davon unberührt. Was wäre denn auch die Alternative gewesen? Grausamkeit, Schmerz, die Fiktion des Übermenschen in eins mit der Angst, daß die Herabwürdigung zur Kreatur, schließlich zum „Material“ unaufhaltsam sein könnte. – Sollte man davor die Augen verschließen? Als Prämie für das Wegsehen noch eine Literatur der sozialen Sekurität fortschreiben? Ich bitte Sie! Das hieße doch liefern, was die Gleichheitsmode der Zeit verlangte. Das ist doch keine Aufgabe für einen Buchhalter des Seins. Und schließlich ist er der Anti-Bürger par excellence. Oder mit seinem Lieblingswort: ein Anarch.

Wer ihn liest, wird oft genug mit Goethe ausrufen: Warum gabst du uns die tiefen Blicke! Aber nicht nur im Tiefen, auch im Flachen, das mediokren Naturen als das Seichte gilt, ist er zu Haus bzw. daheim. Ja, das Rätsel seiner Medusengestalt ist recht eigentlich ein unentwirrbares Ineinander von hohem Ton und flachem Gedanken, vielleicht am treffendsten Hochtief zu nennen, analog dem Helldunkel in der Malerei. In der Zusammenschau von Tiefe und Oberfläche entbirgt sich dem abenteuerlichen Auge die höhere Ordnung der Dinge als kosmisches Strandgut. Wer so schaut, hat den Durchblick „durch die Nebelbänke der Zeit“, er entziffert die „Urschrift der Runen“ in der Natur und hört das Wispern der Dämonen in den Echoräumen des Seins. Mit Platon erblickt er ein Höhlengleichnis an jeder Wand, mit Goethe liest er im ewigen Buch der Natur. Nicht nur den Vorhang der Gewohnheitsverblendung, auch den „letzten Schleier des Grauens“ lüftet der Schlaf einer „geometrischen Vernunft“, die Jünger selbst den Handlangern des „abendländischen Schwunds“ (von Sinn) zuschlägt. Das vermodernde Auge des gewöhnlichen Tagesmenschen „sieht nichts“. Doch in den Schluchten des Schlafs lauert mehr. Aus den ausgebrannten Augenhöhlen des „Fremden“ springt den abenteuerlichen Träumer das „absolute Nichts“ an.

Ein Gedanke – nur schwer zu ertragen, angesichts des festlich gedeckten Tisches, an dem wir uns heute versammelt haben. Aber, und damit will ich enden: Ist das nicht das Eigentliche der Lehre unseres Jubilars – die Arbeit an der Zersetzung der modernen Illusionen mit den Gesten der Verachtung gegenüber all dem zu verknüpfen, was die Moderne zwar unheroisch, aber auch pragmatisch-nüchtern und friedfertig macht? Das Büffet ist eröffnet.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen