Dead man walking

Sinnlos, willkürlich und fast weltweit: die Todesstrafe  ■ Von Caroline Moorhead

Bis vor nicht allzu langer Zeit riefen die Wächter im Strafgefängnis von St. Quentin, Kalifornien, sobald ein zum Tode Verurteilter seine Zelle verließ: „Dead man walking.“ Dieser eindringliche und fast poetische Ruf sagt viel über den amerikanischen Umgang mit zur Hinrichtung Verurteilten.

Was „on death row“ (etwa: Anstehen zum Sterben, Anm.d.Ü.) in Amerika geschieht, ist allerdings absolut nicht poetisch; 38 solcher Todestrakte gibt es dort, in denen die Gefangenen auf die Vollstreckung ihrer Todesurteile warten. Nachdem ein Urteil des Obersten Gerichts 1972 fast alle Strafgesetze, die ein Todesurteil erlauben, als ungesetzlich bezeichnete, hörten die Hinrichtungen in den USA auf.

Heute wird wieder vermehrt hingerichtet. Seit 1977 starben 250 Menschen durch Todesspritzen, elektrischen Stuhl, am Galgen, in der Gaskammer und durch Erschießen. 2.870 sitzen derzeit in Todeszellen. Sie werden aller Voraussicht nach in einem Klima hingerichtet werden, in dem neue Strafgesetze, die das Todesurteil erlauben, auf Bundesebene verabschiedet werden; in dem der neue republikanische Gouverneur von New York, George Pataki, auf Wiedereinführung der Todesstrafe in New York drängt und verkündet, er wolle SingSings „Old Sparkies“, d.h. die alten elektrischen Stühle, für 250.000 Dollar pro Stück öffentlich versteigern und statt ihrer tödliche Injektionen einführen; und in dem sogenannte Selbsthilfegruppen von Verbrechensopfern immer lauter nach Rache und Vergeltung schreien. Vielleicht werden die verurteilten Männer sogar öffentlich sterben: mehrere Fernsehsender haben beantragt, Hinrichtungen übertragen zu dürfen.

Schlichter Tatbestand des Mordes

Das liberale Amerika hat immer bestritten, daß von Todesurteilen disproportional vor allem Minoritäten betroffen sind, Arme, Geistesschwache und all jene, die ohne ausreichenden Rechtsbeistand sind. Mindestens ein schwarzer Gefangener wurde 1994 hingerichtet, nachdem sein Todesurteil von einer weißen Jury ausgesprochen wurde; alle Schwarzen, die für den Geschworenendienst in seinem Prozeß ebenfalls zur Wahl standen, waren abgelehnt worden. Falschinformation von Geschworenen, unfaires Verhalten und rassistische Vorurteile wurden aufgedeckt, kurz bevor ein zweiter hingerichtet wurde: nichts reichte für ein Gnadengesuch. In einem dritten Fall, der einen allgemein als geistig verwirrt anerkannten Mann betraf, verzichtete der Verurteilte selbst auf das Revisionsverfahren und bat um Hinrichtung: der Staat beugte sich diesem Wunsch.

Kurz vor seiner Pensionierung erklärte der Oberste Richter Harry A. Blackmun, daß seiner Meinung nach die Praxis der Hinrichtungen nicht nur oft die Verfassung bräche, sondern auch „voller Willkür, Diskriminierung und Irrtümer“ sei. Einen Menschen in den Tod zu schicken, weil Unschuldsbeweise zu spät kämen und die Revisionsfrist abgelaufen sei, so Blackmun, „nähert sich gefährlich dem schlichten Tatbestand des Mordes“. (Und billig ist es auch nicht: Harris County in Texas, das Hinrichtungszentrum, in dem die meisten Exekutionen stattfinden, gibt für jede Hinrichtung, so ein Bezirksrichter, durchschnittlich zwei Millionen Dollar aus. Da 1994 allein 25 Hinrichtungen in Harris County stattfanden, muß man fragen, ob sich das Zentrum solche Massen an Hinrichtungen überhaupt noch leisten kann.)

Die USA sind neben Pakistan, Jemen und Saudi-Arabien einer der weltweit vier Staaten, in denen regelmäßig auch Minderjährige hingerichtet werden. Obwohl diese Praxis in anderen Ländern als barbarisch abgelehnt wird, bricht sie durchaus keine internationalen Vereinbarungen.

In Friedenszeiten offiziell abgeschafft

Die Regierung der USA paßte auf und ließ sich von dieser Bestimmung ausnehmen, bevor sie die entsprechenden Verträge unterschrieb. In den vergangenen zehn Jahren sind neun Jugendliche hingerichtet worden, 37 warten zur Zeit auf ihren Tod.

Einer von denen, die auf ihre tödliche Spritze warten, ist Heath Wilkins. Er war 16, als er zusammen mit vier anderen obdachlosen Teenagern in Avondal, Missouri, bei einer Geiselnahme in einem Alkoholgeschäft eine Mutter von zwei Kleinkindern tötete. Seine eigene Kindheit war brutal: seine Mutter schlug ihn, schon im Kindergartenalter kriegte er weiche Drogen verabreicht, wurde in Psychiatrien verfrachtet und hatte als Zehnjähriger schon drei Selbstmordversuche hinter sich. Sowohl Staatsanwaltschaft als auch Verteidigung erklärten, daß er zu gestört sei, um vor Gericht stehen zu können; aber der Prozeß fand statt.

Nachdem er mehrere Male um die Todestrafe bat, wurde sie ihm schließlich gewährt. Das war vor über neun Jahren. Seitdem sitzt er in Missouri in der Todeszelle und läßt seinen Anwalt jede erdenkliche Revisionsmöglichkeit ausschöpfen. Einmal rettete ihn das, knapp 24 Stunden vor der angesetzten Vollstreckung. Zwei Revisionsmöglichkeiten hat er noch. Was seinen Fall so grotesk macht, ist auch, daß der heute 25jährige nicht mehr der schwer gestörte Teenager von 1985 ist, sondern ein junger Mann, der verzweifelt um die Wiederaufnahme des Verfahrens und um einen fairen Prozeß kämpft. Ihm ist bewußt, wie unendlich falsch es war, damals alle Hilfe zu verweigern und stattdessen um das Todesurteil zu bitten. Heute muß er damit rechnen, daß die, die damals zusammen mit ihm mordeten, bald auf Bewährung entlassen werden, während er für dasselbe Verbrechen sterben muß.

Im internationalen Vergleich sind nicht viele Länder dem Beispiel der USA in Sachen Todesstrafe gefolgt. Die lange Geschichte des Kampfes um die Abschaffung der Todesstrafe beginnt mit Cesare Beccaria, der 1764 in Italien seinen heftigen Angriff auf die Todesstrafe, „Über Verbrechen und Strafen“, veröffentlichte. 1786 nahm der toskanische Großfürst Leopold Beccarias Abhandlung als Referenzpunkt für sein neues Strafgesetz, in dem die Todesstrafe ausdrücklich verboten wurde.

1863 war Venezuela das erste Land, das die Todesstrafe für alle Vergehen abschaffte. Und seit Ende des Zweiten Weltkriegs und mit der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, in der auch das Recht auf Leben aufgenommen wurde, hat sich die Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe weltweit ausgebreitet. Das sechste Protokoll der Europäischen Konvention über Menschenrechte war die erste internationale Vereinbarung, die mit ihrem Inkrafttreten 1985 die Todesstrafe für alle Verbrechen in Friedenszeiten abschaffte.

In insgesamt 97 Ländern existiert die Todesstrafe bis heute, die übrigen 96 Staaten verfahren wie folgt: in 54 ist die Todesstrafe ganz abgeschafft, in 15 wird sie für Landesverrat und als Strafmaßnahme zu Kriegszeiten aufrechterhalten, und in 27 Ländern ist sie de facto abgeschafft, d.h. in den letzten zehn Jahren wurden keine Todesurteile mehr vollstreckt. Im Durchschnitt schaffen zwei Länder pro Jahr die Todesstrafe ab, und inklusive der Türkei, die seit zehn Jahren kein Todesurteil mehr vollstreckt hat, kommt Westeuropa heute offenbar ohne Todesstrafe aus. Auch die gegenwärtige Entwicklung in Osteuropa weist in diese Richtung.

China an der Spitze aller Länder

Aber es gibt auch immer noch ein paar besonders harte Fälle. An der Spitze aller Länder mit brutalen Strafpraktiken steht China mit weit über 1.500 Hinrichtungen pro Jahr, eine Zahl, die alle anderen weit hinter sich läßt. Die Schwelle zur Strafmündigkeit liegt in China bei sieben Jahren, und für insgesamt 60 verschiedene Delikte ist die Todesstrafe vorgesehen, einschließlich für „Hooliganismus“. Die Urteile werden häufig auf Massenveranstaltungen in Sportstadien vollstreckt, nachdem man die Gefangenen in offenen Lastwagen durch die Straßen gefahren hat. Oft werden Todesurteile nur Stunden nach Verhängung durch Erschießungskommandos ausgeführt. Seit einiger Zeit mehren sich Berichte, nach denen China sich am Handel mit Nieren und Hornhäuten, die gerade Hingerichteten entnommen werden, beteiligt; Vollstreckungen werden angeblich nach medizinischer Nachfrage zeitlich festgelegt und die Verurteilten in Rücken oder Kopf geschossen, je nachdem, ob Nieren oder Hornhäute benötigt werden. Manchen Gefangenen werden angeblich schon vor der Hinrichtung Organe entnommen. Man muß fürchten, daß mit der Lukrativität des Organhandels und den Fortschritten der Transplantationsmedizin mehr Todesurteile gefällt und vollstreckt werden.

Zahlenmäßig wesentlich geringer, aber ebenso schockierend sind die Enthauptungen, die unter dem Gesetz der Scharia in Saudi-Arabien als Strafe für Gotteslästerung, bestimmte Sabotagehandlungen, Verrat oder Verschwörung gegen den Staat, einige sexuelle Verhaltensweisen und für bewaffneten Raub durchgeführt werden. Frauen werden von Erschießungskommandos getötet, es sei denn, sie sind wegen Ehebruchs verurteilt, wofür sie gesteinigt werden. Exekutionen finden in großen Städten meist nach dem Freitagsgebet und üblicherweise auf dem Platz vor der Residenz des lokalen Herrschers statt. Es gibt in Saudi- Arabien keine unabhängigen Verteidiger, und ein Geständnis, das unter Folter zustandekam, reicht für eine Verurteilung.

Auch in Nigeria finden nach wie vor öffentliche Hinrichtungen statt, beispielsweise die vom 2. August 1994, bei der 38 Gefangene vor 20.000 Zuschauern erschossen wurden. Die meisten waren von einem „Sondertribunal für Raub und Gewaltverbrechen“ verurteilt worden, gegen dessen Schuldsprüche es keine Revision gibt. Der 24jährige Simeon Agbo stand eine Stunde nach den Schüssen auf ihn blutend wieder auf und bat um Gnade. Man warf ihn zusammen mit den 37 Leichen auf einen Lastwagen, keiner hat je wieder etwas von ihm gehört.

Grausames Warten auf die Vollstreckung

Immer wieder wird argumentiert, daß das unendliche Warten der zum Tode Verurteilten auf ihre Hinrichtung einer „unmenschlichen und degradierenden Behandlung“ gleichkommt, wie sie durch internationales Recht definiert und verboten wurde. In einem Testfall führte das in Jamaica kürzlich zu einer neuen Obergrenze von fünf Jahren Wartezeit. Aber natürlich ist auch das keine befriedigende Lösung.

Gerade die grauenhaften Bedingungen, unter denen zur Hinrichtung verurteilte Gefangene leben müssen, werden in der Debatte um die Todestrafe immer wieder gegen sie angeführt. „Man stelle sich eine Krankenhausstation für unheilbar Kranke vor, einen Flur voll geistig gestörter Gewalttäter und den Ultrahochsicherheitstrakt einer Strafanstalt“, schrieb William Schabao, Juraprofessor an der Universität von Quebec, „und man hat ungefähr alle Schrecken der Todeszellen beisammen.“

Und dennoch erreichen nur wenige Todeszellentrakte den Horror der japanischen „Zellen der Verdammten“. In ihnen haben Männer Jahrzehnte zugebracht, meist in Einzelhaft, bevor sie schließlich hingerichtet wurden. Sadamichi Hirasawa trickste den Henker letztes Jahr aus und starb, bevor er zum Galgen geführt werden konnte. Er war 94 Jahre alt und hatte 37 Jahre in der Todeszelle verbracht. Siebzehnmal hatte er die Wiederaufnahme seines Verfahrens beantragt.

Seit ihrer Gründung 1961 hat amnesty international die Kampagne gegen die Todesstrafe angeführt, die von der Organisation als fundamentaler Bruch aller internationalen Menschenrechtsverträge angesehen wird. Und nach und nach werden die brutaleren Aspekte dieser Strafe tatsächlich gemildert, zumindest theoretisch. Die Entscheidung der Menschenrechtskommission, den Tod in der Gaskammer als „unmenschliche Behandlung“ für illegal zu erklären, ist ein weiterer Schritt auf diesem Weg – auch wenn die Frage bleibt, wie man einen Menschen auf „menschliche“ Weise umbringen kann. Für Richter Harry Blackmun, der nach 20 Jahren Beschäftigung mit der Verfassung zum leidenschaftlichen Gegner der Todesstrafe wurde, sind solche Konzessionen nur „ein Herummachen an der Todesmaschinerie“.

Überhaupt ist die Frage der Todesstrafe immer durch Widersprüche und höchst fragliche Prämissen charakterisiert gewesen. Was soll die Todesstrafe überhaupt bewirken, wenn eine Studie nach der anderen keinen Beweis vorlegen kann, daß sie von Mord, terroristischen Handlungen oder politisch motivierten Verbrechen abhält? Wie soll man das Problem lösen, daß die unendlichen Wartezeiten, dieses Anstehen zum Sterben, „unmenschlich“ sind? Wie rechtfertigt man überhaupt, daß einer „am Halse aufgehängt wird, bis der Tod eintritt“, wenn international als Folter geächtet ist, jemanden am Arm aufzuhängen und damit zu quälen? Rache ist offenbar ein integraler Bestandteil nicht nur des islamischen Rechtssystems. Wie soll man mit dem wachsenden Wunsch nach Vergeltung und der massenhaften Unterstützung zur Wiedereinführung der Todesstrafe in Ländern wie beispielsweise Großbritannien umgehen?

In einer Welt, in der immer mehr Menschen Gesetzlosigkeit und wirtschaftlichen und politischen Zusammenbruch fürchten, und in der der Druck für mehr Law and order eher noch zunimmt, ist das „Herummachen“, so deprimierend das auch sein mag, zur Zeit wohl die einzige Richtung, die die Kampagne zur Abschaffung der Todesstrafe nehmen kann.

Caroline Moorhead ist freie Publizistin und Biographin (B. Russell) und lebt in London.