Rotarmisten mit blauer Kreide

■ "Nach der Schlacht": Neuer "Stattreisen"-Spaziergang zum 50. Jahrestag der Befreiung / Ist im zukünftigen Regierungsviertel bald nichts mehr zu sehen?

Der Marmor aus der Reichskanzlei ist offenbar ein idealer Resonanzboden. „Du mein Herz bist's, das da stöhnet, denn du leidest schwere Pein...“, erklingt es schwermütig russisch aus dem protzigen Treppenhaus der Außenstelle der russischen Botschaft Unter den Linden. Zum Auftakt ihres neuen Sommerprogramms, das unter anderem einen Rundgang auf den Spuren der Roten Armee anläßlich des 50. Jahrestages der Befreiung beinhaltet, präsentieren sich die offenbar recht vielseitigen MitarbeiterInnen von „Stattreisen“ als achtstimmiger Chor. Der russische Hausherr lauscht mehr oder weniger ergriffen und erinnert daran, daß die noch vom Zaren übernommene Botschaft 1942 zerbombt und 1948 neu errichtet wurde – unter anderem aus den Trümmern von Hitlers Herrschaftssitz.

„Nach der Schlacht“ – so lautet auch der der Titel des Rundgangs, den der gemeinnützige Verein „Stattreisen“ ab April jeden Sonntag um 11 Uhr starten wird. „Ein Thema, das mit vielen Traumata beladen ist“, weiß Vereinsmitarbeiter Michael Bienert. Ein Beispiel dafür ist die Flutung der S- Bahn-Tunnel zur Zeit des Endkampfes um Berlin. Um die Sowjetsoldaten aufzuhalten, haben Pioniere „die Schächte beim Landwehrkanal gesprengt“, verliest er im gruseligen Ambiente eines S- Bahnhofes die Notizen eines Wehrmachtsoffiziers. Auch die Zivilisten, die in Tunneln Schutz gesucht hatten, ertranken oder wurden in der Panik zertreten.

Am 30. April 1945 um 10.30 Uhr begann die Rote Armee mit der Eroberung des Reichstags. Abends um 20.50 Uhr hißte sie auf seinem Dach die Rote Fahne. Daß die Fotos von der Sowjetflagge, die damals um die Welt gingen, wenige Tage später nachgestellt wurden, dürfte hinreichend bekannt sein. Schon weniger bekannt ist die von „Stattreisen“ ausgegrabene Geschichte von jenem sowjetischen Soldaten und Fotografen, der aus einem gekaperten Flugzeug heraus ebenfalls Bilder von dem wehenden Banner schoß. Um diese umgehend in der Moskauer Prawda- Redaktion abzugeben, entführte er gleich noch mal ein Flugzeug – eines, das für Fernreisen besser geeignet war – und sauste los. Ausgerechnet wegen Fahnenflucht wurde er in seiner Abwesenheit zum Tode verurteilt. Als er aber am 3. Mai wieder in Berlin auftauchte, mit 20.000 Prawda-Exemplaren in seinem Gepäck, wurde er begnadigt.

Nicht nur auf, auch im Reichstag haben sich die Sowjetsoldaten verewigt – mit Inschriften, die zum Teil erst jetzt bei Renovierungsarbeiten entdeckt wurden. Die Offiziere schrieben mit blauer Kreide, die einfachen Soldaten mit Holzkohle. Und zwar fast ohne Rechtschreibfehler, wie in verschiedenen Quellen hervorgehoben wird. Die stalinistische Rote Armee war damals bemüht, das Image der primitiven Bauernlümmel zu widerlegen. Auch im Kultursektor. Ihre Kulturoffiziere praktizierten eine recht liberale Kulturförderung, und bald sprossen die Theater wie Pilze aus dem Boden. „Diese Stadt Berlin ist von einer ununterdrückbaren Betriebsamkeit“, ertönt auf dem Gelände des ebenfalls von den Sowjets protegierten Künstlerclubs „Möwe“ die auf Kassette konservierte Stimme des Theaterkritikers Friedrich Luft. „An 20 Stellen wird wieder Theater gespielt“, aber: „Bedeutendes nicht.“ Ute Scheub

Das gesamte Sommerprogramm von „Stattreisen“ ist unter Tel.: 394 83 54 zu erfragen