Rüsselersatzspiele in Arizona

Keine Pappeln, keine Melonen, aber die altbekannte absurde bayerische Zartheit vom Feinsten: Herbert Achternbuschs Stück „Der Stiefel und sein Socken“ im Freien Schauspiel  ■ Von Petra Kohse

Das könnte Kroetz eingefallen sein, als er einmal am Grabe Becketts stand. Oder ist es doch eher wie Klimbim mit einem Hauch von Wim Wenders? Das Stück ist von Herbert Achternbusch, und es ist albern und poetisch und ist ein bißchen böse und handelt von der Liebe. Vielleicht hat der Dichter „Der Stiefel und sein Socken“ ja wirklich geschrieben, während er fünf Tage lang in einer Münchner Theaterkneipe auf ein Rendezvous wartete.

Auf jeden Fall gibt es eine Fanny und einen Herbert. Sie war eine Krankenschwester in Hamburg, und er ist ein Einmaldichter aus München. Jetzt sitzen sie in Arizona. Das heißt: er sitzt mit gelähmten Beinen auf einem Stuhl, und sie stopft seinen Socken für die Cowboystiefel, die er nicht mehr braucht. Und sie phantasieren. Sie zählen Pappeln, die da nicht wachsen, sorgen sich um ein Huhn, das es nicht gibt, er redet von der Zeit, bevor er sie traf, und einmal rezitiert sie sein Gedicht und legt dann selbst ein Ei. Es ist letztlich das gute alte Nicht-mit-dir-und-nicht- ohne-dich-Spiel, aber kraftlos, fast schon weise. Sie sind alt und häßlich, und nur aus Pflichtbewußtsein spielen sie Betrug und Eifersucht, Verletzung und Versöhnung. Denn das ist es, was den anderen am Leben hält.

Vor zwei Jahren schrieb Achternbusch dieses Stück, und man hat das Gefühl, es sei mindestens zwanzig Jahre alt, und man hätte es schon liebgewonnen in seiner absurden bayerischen Zartheit. In Berlin wurde es jetzt zum ersten Mal aufgeführt, im Freien Schauspiel, das auf seiner Winzbühne das zeitgenössische Kammerspiel pflegt. Die erste Überraschung: Eckhard Reschat hat es geschafft, hier ein Bühnenbild zu gestalten. Ein Holzpflock, zwei Fenster, ein Stuhl, ein Wasserhahn, die textgetreu von der Decke baumelnde Teekanne, in einer Wandnische eine Kerze, und wir sind mitten auf einem bayerischen Hof und doch irgendwie in der Wüste.

Dieser Text ist eine Partitur für zwei Solisten (ja, Männer!) und braucht eine Direktion. Der Regisseur Armin Dillenberger steht aber leider selbst auf der Bühne, als Fanny. Das heißt: „leider“ auch wieder nicht, denn streckenweise ist Dillenberger eine hinreißende Fanny. Und zwar hat er daran gedacht, einige verfremdende Requisiten ins Spiel zu streuen (rotes Band für Blut etc.), aber die Schauspielregie fehlt. So fiedeln er und Joachim Schweizer zuweilen aneinander vorbei, manchmal rutschen die Töne oder stagnieren, nicht jede Pause sitzt richtig, und mancher Abgang wird verpatzt. Ist die Doppelfunktion eine Folge der Leidenschaft oder des Sparzwangs? Auf jeden Fall ist sie ein Fehler. Aber – die zweite Überraschung! – auch mit Abstrichen ist es schön.

Dillenbergers Fanny trägt ein Korsett mit Brustschalen unter der Kittelschürze, hat einen eiligen hinkend-gebeugten Gang und guckt mit Mäuseäuglein über die fetten Backen hinweg gerührt auf ihren Herbert. Der sitzt ergraut geschniegelt da, plappert mit eitel gequetschter Stimme, und wenn er schweigt, klappt er ständig den Mund auf, um die Lippen mit tonlosem Schmatzen wieder selbstzufrieden aufeinanderzudrücken. Soviel zur Ausgangslage. Die fünf Szenen heißen etwa „Keine Pappeln“ oder „Keine Melone“, was schon mal lustvoll desillusionierend ist, und gespielt wird naiv und mit allem Wissen ums Spiel zugleich.

Der erste Teil des Abends gehört Dillenberger. Geschickt bringt er wenige Ausdrucksmittel im Dienste realistischer Betulichkeit zum Einsatz. Hausmütterlicher findet man keine Hausmutter in einem bayerischen Volksstück, entwaffnender ist weibliche Koketterie im Kittelschurz nicht denkbar, tuntiger und echter kein verletzt-erstaunter Blick. Dillenberg bewegt sich dicht an der Grenze zur Charge und hält tatsächlich Balance – mit Gespür fürs Timing seiner Effekte.

Schweizer hingegen spielt artifiziell. Eigentlich spielt er einen Schauspieler, der einen Schauspieler... Aber am Ende schwingt er sich zum Tragöden auf, und das ganz nebenbei. Nur die Augen glänzen verdächtig rot und feucht, als er fürchtet, Fanny betrüge ihn im Farn und kehre nie mehr wieder. Und da sie ihn zu lange warten läßt, bevor sie mit Blechdosenrüstung als Römer verkleidet zurückkommt, erzählt er das Gleichnis vom Elefanten.

Wie ihn im Krieg ein Elefantenweibchen als Prothese für den abgeschossenen Rüssel akzeptierte und er doch nie wieder eine Bindung eingehen wollte und die Uniform auszog und ging. Da legt Schweizer mit der Stimme die Tiefenschichten bloß, und man versteht: jetzt ist's ein Abschied für immer. Aber Fanny guckt verständnislos, und dann tanzen sie, der Stiefel und sein Socken – vielleicht war es doch nur der Auftakt zur nächsten Runde.

Bis 14.5., Do.–So., 20.30 Uhr, Freies Schauspiel, Pflügerstraße 3, Neukölln