Angst vor dem Somalia-Effekt

Heute übergeben die US-Truppen auf Haiti ihr Mandat an die UNO / Noch immer Angst vor Terror / Morde vor den Wahlen im Juni  ■ Aus Port-au-Prince Andrea Böhm

Der Mann hätte seine helle Freude an diesem Volk. Sein Porträt ziert zahlreiche Mauern in den Armenvierteln von Port-au- Prince. An seinen Namen werden Liebes- und Lobesbekundungen adressiert. Und wenn es nach dem arbeitslosen Mechaniker Letois Dagrin ginge, dann müßte sich Bill Clinton um seine Wiederwahl keine Sorgen machen. „Er soll Präsident auf Lebenszeit werden. Oder wenigstens so lange im Amt bleiben, bis er so alt ist wie Mitterrand in Frankreich.“

Sogar seinen Namen haben die Bewohner der Cité Soleil, dem größten Slum in der haitianischen Hauptstadt, klanggerecht ins Kreolische übertragen. „Klintonn“ steht unter einem Wandbild, auf dem das vorteilhaft schlank gezeichnete Gesicht neben dem des haitianischen Präsidenten Jean- Bertrand Aristide zu sehen ist. „Aristid an Klintonn se marasa“ ist darunter zu lesen: „Aristide und Clinton sind Zwillinge.“ Vor noch nicht allzu langer Zeit wäre eine solche Auszeichnung für einen US-amerikanischen Präsidenten undenkbar gewesen.

Doch seine größten Fans wird der US-Präsident gar nicht zu Gesicht bekommen. Denn die Armenviertel von Port-au-Prince stehen nicht auf dem Besuchsprogramm, wenn Clinton heute mit großem Pressetroß in Haiti einfliegt, um den Erfolg der US-Operation für gelungen zu erklären und die Verantwortung für die Mission in die Hände des ebenfalls anwesenden Generalsekretärs der UNO, Boutros Ghali, und die United Nations Mission in Haiti (UNMIH) zu übergeben.

Die Herstellung „sicherer und stabiler Verhältnisse“ – so lautete das in der UNO-Resolution 940 formulierte Ziel, mit dem die US- Truppen am 19. September letzten Jahres in Haiti gelandet waren. Das Leben von Bürgern wie Letois Dagrin hat sich seit dem Einmarsch dramatisch verändert. Vorbei sind die Zeiten, da er mit seiner Familie nachts mit anhören mußte, wie Soldaten und paramilitärische Todesschwadrone Nachbarn und Freunde zu Tode prügelten; vorbei sind die Zeiten, in denen sie morgens immer wieder die Leichen der nächtlichen Terroraktionen auf der Straße fanden, deren Gesichtern manchmal die Haut abgezogen worden war. Doch sicher fühlt sich der 27jährige Aristide-Anhänger bei weitem nicht, weswegen er einer der zahlreichen „brigades de vigilance“ angehört. Jede Nacht zieht er mit seinen Nachbarn los, um, ausgestattet mit Knüppeln und Macheten, für Ruhe in den Straßen der Cité Soleil zu sorgen und Mitglieder der rechtsradikalen paramilitärischen FRAPH (Front for the Advancement and Progress of the Haiti) oder „zenglendos“ abzuschrecken.

Mit letzteren sind bewaffnete Räuberbanden gemeint, die für einen großen Teil einer neuen Welle von Gewaltkriminalität in Haiti verantwortlich gemacht werden. Unter anderem ehemalige FRAPH-Angehörige und Ex-Soldaten stehen im Verdacht, „zenglendos“ zu sein.

Nicht nur Dagrin und seine Nachbarn, auch Vertreter der UNO und diverser Menschenrechtsgruppen halten die innenpolitische Situation in Haiti für zu ungewiß, um von „sicheren und stabilen Verhältnissen“ zu sprechen. Insbesondere habe es keine durchgreifende Aktion zur Entwaffnung paramilitärischer Gruppen gegeben. So wandte sich Präsident Aristide in den letzten Tagen mit der Forderung nach der „Entwaffnung der Lumpen“ an die UNO, deren 6.900 „Peace Keeper“, darunter 2.500 US-Soldaten, ab sofort die von den US-Truppen angeblich hergestellte Sicherheit und Stabilität aufrechterhalten sollen.

Doch solche Aktionen sieht das Mandat der UNO-Truppen genauso wenig vor wie Polizeiaufgaben, die die US-Truppen zumindest in einigen Fällen übernommen hatten. Diese fallen nun ganz an jene rund 3.000 Mann starke Interimstruppe, die unter der Bevölkerung zutiefst verhaßt ist, weil sie vorwiegend aus ehemaligen Soldaten der haitianischen Armee besteht. Dieses Sicherheitsvakuum, so fürchten manche UN-Vertreter, könnte Anhänger des alten Regimes dazu verleiten, Attentate auf „Peace Keeper“ zu verüben, um einen „Somalia-Effekt“ zu erzeugen. Das Kalkül: Der innenpolitische Protest in den USA gegen die ohnehin umstrittene militärische Hilfestellung für Aristide könnte zu einem überstürzten Abzug der US- Soldaten führen – und damit zu einem Kollaps der UN-Mission.

Auf die „Peace Keeper“ kommt vor allem die prekäre Aufgabe zu, den Wahlkampf für die Parlaments- und Kommunalwahlen im Juni zu überwachen. In den letzten Wochen haben sich Anschläge auf Büros zur Wählerregistrierung gehäuft, auf Kandidaten und Aktivisten. Mindestens zwei Vertreter linker Gruppierungen, die Aristide nahestehen, sind im März von Unbekannten ermordet worden.

Am meisten Aufsehen und Erschrecken löste jedoch der Mord an der prominenten Aristide-Gegnerin Mireille Durocher Bertin am vergangenen Dienstag aus. Durocher und ein weiterer Insasse ihres Autos waren am Nachmittag auf einer belebten Straße in Port-au- Prince aus einem vorbeifahrenden Wagen erschossen worden. Die Leichen blieben über zwei Stunden am Tatort vor den Augen von Schaulustigen und einer wachsenden Anzahl von Kamerateams liegen – offenbar weil sich haitianische Polizei, internationale Polizeibeobachter und US-Militär über die Frage der Zuständigkeit nicht im klaren waren.

Durocher war nicht nur eine vehemente Befürworterin des Militärputsches gegen Aristide gewesen, sondern hatte auch nach der Rückkehr des Präsidenten gegen ihn mobilisiert – im Gegensatz zu vielen anderen Vertretern der politischen Rechten auch öffentlich. Zuletzt hatte die Anwältin geplant, für die kommenden Wahlen eine eigene Partei zu gründen. Angeblich auf Anfrage der Aristide-Regierung, so erklärte am Mittwoch der Sprecher der US-Botschaft in Haiti, Stan Schrager, wurde nun ein Team von FBI-Agenten eingeflogen, um mit „ihrem Fachwissen“ bei der Aufklärung des Verbrechens behilflich zu sein.

In der Cité Soleil warten unterdessen Latois Dagrin und die anderen Slumbewohner darauf, daß irgend jemand die Mörder ihrer Nachbarn und Freunde vor Gericht bringt. „Allzu lange“, so sagt er unter beifälligen Kopfnicken der anderen, „warten wir nicht mehr auf Gerechtigkeit.“ Es sei an der Zeit, wieder auf die Straße zu gehen und zu demonstrieren. Für Gerechtigkeit, gegen die anhaltende Arbeitslosigkeit und die hohen Preise. Aber erst wenn der US- Präsident wieder weg ist. „Wir werden doch Aristide keine Schande machen und den Besuch von Klintonn stören.“