Vergebliche Bitte um Klarheit

■ Verwirrende Einzelheiten zum Widerruf des Kronzeugen / Im Solinger Mordprozeß geht das Rätselraten weiter

Düsseldorf (taz) – Gestik und Tonlage haben sich erheblich geändert. Markus Gartmann (25), zur Tatzeit der einzige Erwachsene des angeklagten Quartetts, ist wieder wer. Keine verbalen Verwünschungen oder drohende Blicke mehr von den Mitangeklagten. Jetzt wendet Christian B., der Gartmann bis zum Widerruf seines Geständnisses nur als „Weichei“, als ein gefügiges Werkzeug der Ankläger darzustellen suchte, sich dem ehemaligen Kumpel sogar wieder freundlich zu.

Und auch bei den Verteidigern und den Anwälten der Hinterbliebenen der fünf Solinger Mordopfer hat gegenüber Gartmann ein Rollenwechsel stattgefunden. Während Anwalt Reinhard Schön, einer der Vertreter der Familie Genc, dem geständigen Gartmann im Prozeßverlauf immer wieder „tätige Reue“ bescheinigt hatte, hielt er ihm gestern „die höhnische Verachtung der Opfer“ vor. Ganz lieb gingen dagegen die Verteidiger von Felix. K. (17) und Christian B. (22), die beide unisono seit ihrer Verhaftung ihre Unschuld beteuern, gestern mit Gartmann um. Kein scharfer Ton, nichts von der bitteren Ironie vergangener Tage, wenn es galt, die Glaubwürdigkeit des „Kronzeugen“ der Anklage zu erschüttern. Noch scheint der Gerichtsvorsitzende Wolfgang Steffen von dem Widerruf indes nicht überzeugt. Plagten ihn früher fehlende Details im Geständnis, so setzen ihn nun „erhebliche Zweifel“ am Wahrheitsgehalt des Widerrufs zu. Er traut dem fünfundzwanzigjährigen einfach nicht die Phantasie zu, all die geschilderten Einzelheiten erfunden zu haben. Doch Gartmann bleibt dabei: „Ich habe mir das alles ausgedacht.“ Darauf Steffen: „Mit derselben Miene, mit der sie heute sagen, mein Widerruf ist wahr, haben sie bisher im Prozeß gesagt, mein Geständnis ist richtig.“ „Ich weiß“, räumt Gartmann darauf ein, „das war pervers, was ich getan habe, aber ich habe es nun mal getan.“

So forsche Entgegnungen waren bisher seine Sache nicht. Rührt das neue Selbstbewußtsein etwa daher, daß er nun die Rolle des „schwarzen Schafes“ abgelegt hat und wieder zurückgekehrt ist an die Seite der einstigen Gefährten? Ober resultiert der Wandel aus der psychisch entlastenden Abkehr von schweren falschen Beschuldigungen?

Gewißheiten gibt es zu dieser Frage nicht. Immer wieder verweist Gartmann auf den polizeilichen Vernehmungsdruck. Erstmals berichtet er nun von konkreten Drohungen – „Weißt du eigentlich wieviel Türken im Knast sind?“ – und davon, daß er schon in der JVA Wuppertal dem dortigen Gefängnispfarrer gegenüber seine Unschuld beteuert habe.

Rechtsanwalt Schön glaubt Gartmann nicht. Er hält den ganzen Widerruf für „völlig unplausibel und überhaupt nicht nachvollziehbar“. Seinen ersten Widerruf beim Haftrichter Anfang Juni 1993 – ein paar Tage später gestand er erneut – hatte Gartmann im nachhinein so erklärt: „Ich wollte einfach mal versuchen, aus der Sache wieder rauszukommen.“ Gegenwärtig spricht für den Senatsvorsitzenden Steffen „vieles dafür, daß sie es jetzt auch wieder mal versuchen“. Aber sicher ist sich wohl auch Steffen nicht.

Gestern appellierte er zum wiederholten Mal an den vierten Angeklagten, Christian R. (17), endlich sein Schweigen zu brechen, „für Klarheit zu sorgen und zu sagen, wie es gewesen ist“. Doch R., der im Vorfeld des Prozesses 16 Geständnisse abgeliefert hatte, schweigt weiter.

Zu Prozeßbeginn hatte er lediglich erklärt, die anderen drei seien nicht dabeigewesen. Zu Wort meldete sich gestern dagegen Christian B.: „Ich halte diesen Prozeß nicht mehr lange aus.“ Und weiter: „Sie müssen sich langsam mit dem Gedanken abfinden, daß hier drei Unschuldige vor ihnen sitzen.“ Walter Jakobs