: Abwechslung für Erfolgsduselige
Zwischen Kartoffel- und Getreideäckern träumt der VfL Fredenbeck, einziger Zweitligist im Pokalhalbfinale der Handballer, von höheren Weihen im Europacup ■ Aus Fredenbeck Clemens Gerlach
Mit ein paar Baumschulen, etwas Forellenzucht und einigen mittelständischen Betrieben unterscheidet sich die 4.000-Einwohner- Gemeinde Fredenbeck, eine gute Autostunde von Hamburg entfernt, nicht groß von anderen Ortschaften in dieser Gegend. Ein typisches niedersächsisches Geestdorf in der Nähe von Stade eben, mit Kartoffel- und Getreideäckern drumrum, eines, in dem die Hauptstraße auch so heißt und die Vorwahl länger ist als der Anschluß. Gäbe es nicht einen Handballzweitligisten, außer den Einwohnern würde vermutlich niemand ein Verschwinden von der Landkarte bemerken.
Doch nun steht der VfL Fredenbeck unverhofft in der Pokalendrunde. Für zumindest einen Nachmittag erfährt der Dorfverein mehr Beachtung als sonst üblich, wenn er heute in der ausverkauften Alsterdorfer Sporthalle in Hamburg auf den HSV Düsseldorf trifft (das zweite Halbfinale bestreiten die Favoriten THW Kiel und TBV Lemgo). Nicht nur für Trainer Thomas Gloth „der bisher größte Erfolg in der Vereinsgeschichte“, möglich gemacht durch vier Heimsiege über die Bundesligisten Nettelstedt, Bad Schwartau, Hameln und Niederwürzbach. Mit etwas Glück kann aus dem „krassen Außenseiter“ (Gloth) sogar ein Europacup-Teilnehmer werden. Sollten die beiden norddeutschen Vereine das Endspiel erreichen, würde der 1.100 Mitglieder zählende Verein selbst bei einer Niederlage im Pokalsiegerwettbewerb starten, da Kiel als Deutscher Meister bereits für die Champions League qualifiziert ist.
Soweit mögen vielleicht erfolgsduseligen Fans blicken, die das „Handball Wembley“ (DHB) zu einem Heimspiel machen wollen. Dem 34jährigen Übungsleiter paßt die Euphorie hingegen gar nicht in den Kram. „Wir sollten uns besser auf das Spiel gegen Düsseldorf konzentrieren“, versucht er abzubremsen, was auch er wohl nicht verhindern kann: „Daß die Spieler sich zuviel mit dem Thema beschäftigen.“
Eine Überraschung wäre das nicht, hält der Punktspielalltag doch nur höchst selten Prickelndes bereit: Tarp-Wanderup, Emsdetten und ähnliches prägen das Angebot. Dafür kommt es umso unerwarteter, daß sich dem Verein, der 1995 sein 75jähriges Bestehen feiert, überhaupt Gelegenheit zu solchen Träumereien bietet. Vorige Saison war die Mannschaft nach sechs Jahren Bundesliga abgestiegen. In „keiner guten Verfassung“ sei sie damals nach dem Abgang des überragenden Spielmachers Binjo Tluczynski gewesen, erinnert sich Gloth, der erst im Dezember 1993 die Trainingsarbeit übernommen hatte. Und wenige Wochen zuvor war auch noch der 54jährige Manager des VfL, Harald Uhding, unweit von Fredenbeck tödlich verunglückt. Mehr als zwei Jahrzehnte hatte sich der Bauunternehmer, „der hier alles am Laufen gehalten und aufgebaut hat“ um den VfL gekümmert – von der Oberliga bis in die höchste Spielklasse.
Nach dem Schock dauerte es eine ganze Weile bis sich der Verein wieder berappelt hatte. Ralf Uhding, bis 1990 selber beim VfL aktiv, übernahm die Position des Vaters im Verein wie im Betrieb, weil „sein Werk nicht umsonst gewesen sein sollte“. Das „Vermächtnis“ hat der 34jährige Bankkaufmann bislang in Ehren gehalten. Die ortsansässigen Sponsoren blieben dem Verein treu, ebenso der Trikotpartner, ein amerikanisches Chemieunternehmen. Der Schnitt von über 2.000 Zuschauern pro Heimspiel ist weiterhin bundesligareif und die eigens gegründete Marketingabteilung arbeitet erfolgreich am Team Fredenbeck. „Der Verein ist wieder der Werbeträger Nummer eins für den Ort“, schwärmt Gloth, der schon vorher erfolgreich in Leutershausen und Schwartau tätig gewesen war. Und in der Gruppe Nord der zweiten Liga steht der VfL einen Punkt hinter GWD Minden auf Platz zwei, der Wiederaufstieg ist noch zu schaffen.
Großen Anteil am Aufschwung hat Roger Kjendalen, der seit bald einem Jahr in Fredenbeck spielt und zum Spielmacher und einem der erfolgreichsten Torschützen im bezahlten deutschen Handball avancierte (174 Treffer), obwohl er nicht so wirkt, wie man sich einen typischen Goalgetter („zwei Meter zehn, Ball in die Hand und Tor“) vorstellt. Den 226fachen norwegischen Nationalspieler hatte Gloth schon lange auf dem Zettel: „Skandinavier haben mehr die Mannschaftsleistung im Auge als ihre eigene.“ Kein Solotänzer also, obwohl als einziger Spieler Vollprofi. Statt dessen einer, der die Gemeinschaft schätzt – und sie ihn. Schnell haben ihn die angeblich so kühlen Nordlichter ins Herz geschlossen: ihren Roger, der die dörfliche Einheit nicht als beengend empfindet.
Vor kurzem hat der Rückraumspieler, der nur einen Freiwurf von der Sporthalle entfernt wohnt, seinen Vertrag um zwei Jahre verlängert. Seit dem 6. Februar ist der 29jährige nach einem Achillessehnenabriß jedoch außer Gefecht – vermutlich auch heute. „Eine Herausforderung für die Mannschaft“, behauptet Gloth. Wohl eher ein zu großes Handicap: Ohne Kjendalen verlor der VfL auf Minden bislang drei Punkte. Doch Gloth vertraut auf den Teamgeist: „Der Zusammenhalt ist hier stärker, auch wenn die Uhren etwas langsamer gehen.“ Wohl wahr, aber dafür kann man sie auch nach eigenen Vorstellungen stellen.
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