Die Kunst des Gedenkens

Die Paradoxie aller Ästhetik: Jedes Mahnmal muß an der Nichtdarstellbarkeit des Holocaust scheitern  ■ Von Micha Brumlik

Oberflächlich existiert sie längst, die von dem katholischen Theologen Johann Baptist Metz geforderte anamnetische Kultur. Gleichwohl: sich in Solidarität und ohne allen Bemächtigungswillen den Opfern des geschichtlichen Unrechts, den von den Nationalsozialisten Erschlagenen und Vergasten zuzuwenden, scheint unmöglich zu sein. Dafür gibt es hierzulande keine Tradition – im Gegenteil. Bitburg, wo Kohl und Reagan die Waffen-SS und die kaum minder furchtbare Wehrmacht ehrten, zeugt davon ebenso wie die Posse um die Neue Wache, wo den botmäßigen Erben der Kollwitz jetzt in Gestalt der preußischen Reformgeneräle Scharnhorst und Bülow die Rechnung präsentiert wird.

Bedarf die wiedervereinigte Republik in ihrer künftigen Hauptstadt eines zentralen Mahnmals für die ermordeten Juden? Die Debatte, die um das von Lea Rosh betriebene Unterfangen losgebrochen ist, hat sich seit dem Ende des Wettbewerbs verstärkt. Zumal mehr oder minder prominente jüdische Intellektuelle sich mit dem Hinweis gegen ein Mahnmal ausgesprochen haben, daß damit entweder die schon existierenden Gedenkstätten abgewertet beziehungsweise die Juden nur noch als Inbegriff des Todes präsentiert würden. Während einerseits schon in der Idee einer „zentralen“ Gedenkstätte eine unbewußte Fortsetzung nationalsozialistischer Staatsideologie gesehen wird, ahnt man andererseits in der Monumentalität des Mahnmals noch eine Art Siegessäule. Der Verdacht, daß es bei dem geplanten Berliner Mahnmal um eine abschließende Geste gehe, bei welcher das Gedenken schließlich entsorgt wird, will nicht verstummen. Die Kritiker haben alle recht und damit auch wieder unrecht – haben sie sich doch genauso wenig wie die Befürworter eines Mahnmals der grundsätzlichen Paradoxie des Unterfangens gestellt, eines Vorhabens, in dem soziologische, ästhetische, historische, politische und theologische Aspekte kaum unterscheidbar zusammenfließen.

Zunächst – soziologisch gesehen – stellen nämlich kulturell gestaltete Vergangenheitsbezüge aller Art nichts anderes dar als eine Kommunikation der Gesellschaft mit sich selbst, in ihrer Gegenwart. Die Toten sind tot, unsere Nachrichten erreichen sie nicht mehr. Ob und was die Zukünftigen hingegen mit unseren Traditionsstiftungsversuchen anfangen werden – niemand kann es heute wissen.

Sodann hat sich die Einsicht in die ästhetische Unmöglichkeit, das quantitativ ungeheure und moralisch nicht faßbare Verbrechen ins Bild oder in Szene zu setzen, inzwischen allgemein herumgesprochen. Das hindert keine Künstler daran, eine entsprechende Kunst des Scheiterns ins Werk zu setzen – im Gegenteil.

Vor allem muß sich eine anamnetische Kultur – nimmt sie sich denn ernst – der Aufgabe stellen, bereits verstorbene, ermordete Menschen in ihr moralisches Universum aufzunehmen, sie also auf keinen Fall zum Mittel für irgendwelche Zwecke zu machen. Kultur soll sich nicht an ihre Stelle setzen, sondern sie schlicht um ihrer selbst willen würdigen.

Schließlich sind jedoch Denk- und Mahnmäler immer in ein spezifisches, das eine ausblendende, das andere aufnehmende Geschichtsbild gebettet – kein einzelnes, kontextuiertes Mahnmal kann universalgeschichtlichen Ansprüchen genügen. Hinzu kommt, daß sich überhaupt nicht übersehen läßt, daß in der Kommunikation der Gegenwart mit sich selbst unter Bezug auf die Vergangenheit jederzeit – mehr oder minder bewußte – partikulare Zwecke verfolgt werden; mit anderen Worten: Politik ist immer mit im Spiel.

So zeigt sich, daß jeder Einwand, der unter Berufung auf eines dieser Argumente gegen das geplante Berliner Mahnmal ins Feld geführt wird, im Sinn einer reiterierbaren Schleife auch auf jede dezentrale, basisnahe, nur historisch informierende oder regional bestimmte Denkstätte angewendet werden kann. Alles, was gegen das zentrale Mahnmal gesagt wird, gilt – mutatis mutandis – für jede dezentrale Gedenkstätte. Auch von Hadamar, Dachau oder Neuengamme, wo die freiwillige Feuerwehr mit Blasmusik und Bier die dort Geschundenen gerade nachträglich verhöhnt hat, gilt, daß sie einer bestimmten Kommunikation kulturell oder politisch Interessierter entsprechen. Auch für sie trifft zu, daß sie in der einen oder anderen Weise an der Nichtdarstellbarkeit scheitern und sie den Paradoxien anamnetischer Solidarität nicht genügen können. (Was soll es denn wirklich heißen, mit Toten solidarisch zu sein?) Sie alle sind einem bestimmten Geschichtsverständnis verpflichtet – wird nicht auch hier die eine oder die andere Gruppe der Opfer vergessen? – und dienen einem mehr oder minder legitimen politischen Interesse: etwa der Erwägung, wie der Bau einer Gedenkstätte auf das Ausland oder auch nur auf die Partnerschaftsgemeinde wirken könnte, ob damit womöglich Wählergruppen vergrault werden. Es ist eine Eigentümlichkeit des Gegenstandes, der Massenvernichtung, also eines moralisch nicht geheueren Verbrechens und eines unfaßbaren, untröstlichen Leidens, daß keine Form, keine moralische Zwecksetzung und kein guter Wille ihm genügen können. Erst wenn man sich demütig darauf verständigt hat und bei seiner Kritik nicht die Illusion erzeugt, es könne doch noch eine Form gefunden werden, die diesem Einwand entgeht, erst dann läßt sich im Bewußtsein notwendigen Scheiterns über Pläne, Projekte und Konzepte handeln.

Die idealistische Philosophie hat für diese Fragestellung den Begriff des „Erhabenen“ gefunden, einen Begriff, der nun gerade für die Massenvernichtung so unangemessen wie nur möglich wirkt. Und eine Meinung etwa Kants, wonach dasjenige erhaben sei, das durch seinen Widerstand gegen das Interesse der Sinne unmittelbar gefalle, scheint die Verwendung dieses Begriffs im benannten Zusammenhang sofort zu disqualifizieren. Indes: bezüglich der Natur war der gleiche Kant in seiner „Kritik der Urteilskraft“ der Auffassung, daß das „Wohlgefallen am Erhabenen der Natur nur negativ sei, nämlich ein Gefühl der Beraubung der Einbildungskraft durch sie selbst“. Da nach dieser Lehre nicht der Gegenstand selbst, sondern nur seine Betrachtungsweise erhaben ist, kann es beim Anblick des Erhabenen der Natur auch nicht darum gehen, sich zu fürchten; sondern nur darum, einen entsprechenden Gegenstand als furchtbar zu betrachten, „wenn wir ihn nämlich so beurteilen, daß wir uns bloß den Fall denken, da wir ihm etwa Widerstand tun wollten, und daß alsdann aller Widerstand vergeblich sein würde“. Daß derlei Betrachtungsweise dazu führt, sich in guter Sicherheit hypothetisch der mächtigen Natur auszusetzen, führt zu einer eigentümlichen Konsequenz: „Aber ihr Anblick wird nur um desto anziehender, je furchtbarer er ist, wenn wir uns nur in Sicherheit befinden.“

Es scheint, als besorgten die Kritiker all der entsprechenden Mahnmale – diesmal nicht einer unermeßlichen, unheimlichen Natur, aber der Formen einer unermeßlich grausamen, von Menschen vollzogenen Tat –, daß sich beim Begehen oder Betrachten eines Mahnmals eben jener unsolidarische, pietätlose Effekt gegenüber den Ermordeten einstellen wird, jenes allzumenschliche, schäbige Gefühl, davongekommen zu sein. Elias Canetti hat diese Bedenken für den sozialen Anlaß von Beerdigungen trefflich charakterisiert. Tatsächlich – angesichts des Umstandes, daß auch bei jedem noch so trefflich gestalteten Mahnmal eine unüberbrückbare, ästhetische Differenz zwischen dem, worauf das Kunstwerk verweist, und dem, was es ist und von wem es betrachtet wird, herrscht, ist dem wenig entgegenzusetzen.

In dieser Perspektive zeigt sich, daß alle in Berlin prämierten Entwürfe – mit Ausnahme der Busspur von Renata Stih und Frieder Schnock – eine Ästhetik des Erhabenen, der überwältigenden Wirkung inszenieren und sich zudem thematisch an der jüdischen Idee des Eingedenkens im Aufrufen des Namens orientieren. Grabsteine, so wußte Sigmund Freud, erfüllen in sogenannten primitiven Gesellschaften beziehungsweise den ihnen entsprechenden Seelenschichten moderner Menschen immer auch die sprichwörtliche Funkton des Deckels auf dem Grab, der vor der Wiederkunft der Dämonen schützt. In manchen Stammesgesellschaften galt zudem ein striktes Tabu, die Namen der Toten zu nennen.

Ein im hier erörterten Sinne erhabener, monumentaler Grabstein – der Entwurf von Jackobs-Marcks –, der gegen die Dämonenfurcht in der Tradition von Judentum und Christentum die Namen nennt, geht jedoch in seiner Erhabenheit sofort daran zugrunde, daß seine erinnernde Kraft unter dem Vorbehalt finanzieller Knappheit steht: Alle Namen sofort einzugravieren sei – so wird uns mitgeteilt – zu teuer. So entsteht eine Warteschlange, politisch gesprochen wird die Gestaltung auf die „Zeitschiene“ gehoben und wie bei jeder Musicalaufführung das Sponsorentum bemüht.

Eine schlimmere Aufkündigung anamnetischer Solidarität ist kaum denkbar. Vor allem aber gilt: All die, derer da gedacht werden soll, sind mitnichten in Berlin ermordet oder begraben worden, viele von ihnen haben als Aschenflocken auf den Leichenfeldern Birkenaus ihr letztes Verbleiben gefunden, kein Friedhof birgt sie. Ob sie in das moralische Universum ausgerechnet dieser Gesellschaft eingemeindet werden wollten? Wie also ihnen den gebotenen Respekt entbieten?

Doch nur dadurch, daß Zeugnis abgelegt wird von dem Unrecht, das ihnen widerfahren ist. Ein Mahnmal für die ermordeten Juden Europas kann hierzulande nur ein Mahnmal an das in Deutschland ausgeheckte und massenhaft mitbetriebene Mordgeschehen sein – wenn überhaupt, so entspricht der Entwurf von Simon Ungers, der das Verbrechen erinnert, diesem Zweck. Aber auch dieser Entwurf verfällt der Dialektik von Schrecken und Entronnensein – hier endet die Kunst. Vermag Theologie mehr?