: Einmal nach Nirgendwo
Sich für ein paar Mark ein schönes Wochenende auf der Schiene machen – jeder kann der nächste, der nächste kann schon heute der millionste sein ■ Von Wolfgang Farkas
Einen Zug überfällt man heute nicht mehr mit Pistolen, sondern mit einem „Schönes Wochenend“- Ticket der Bahn. Aber welchen Zug soll man nehmen? Ich könnte um 0.07 Uhr auf Sylt sein. Oder um 17.37 auf Rügen. Oder um 23.49 Uhr in Hamburg. „Ich drucke Ihnen einfach mal alles aus“, sagt der Schalterbeamte. „Sie können sich's ja noch überlegen.“ Das klingt gut.
Es geht los, pünktlich um 14.49 Uhr, Bahnhof Wannsee. Es geht pünktlich los. Ein Ruck, und der alte beigefarbene Reichsbahn- Doppeldecker-Nichtraucher- Bummelzug setzt sich in Bewegung, schnauft, kommt langsam auf Touren. Ich bin in bester Gesellschaft: allein. Sonnenheller Fensterplatz, mache ich es mir auf den roten Plastiksitzen bequem und weiß gar nicht, wie mir geschieht, so still ist es. Nach weniger als fünf Minuten der erste Stopp in Potsdam-Drewitz. Nicht einer steigt zu. Trillerpfiff, der Zug schabt weiter leise über die Schienen, als wäre es ihm ganz egal, ob er nun ein nutzloser Geisterzug ist oder ein rauschendes Volksfest.
Bildet Fünferbanden – dann wird's billiger
Genau das aber sollte es eigentlich sein, wenn man den Erzählungen Bekannter oder Zeitungsmeldungen über das „Schönes Wochenend“-Ticket glaubt. Das Angebot ist verlockend: für 15 Mark zwei volle Tage lang quer durch die Republik reisen – in Nahverkehrs- und in sogenannten Eilzügen. Zudem darf man bis zu vier Leute auf einen Fahrschein mitnehmen. Die Fünferbanden können sich auch spontan bilden und immer wieder neu zusammensetzen. Daß sich viele daraus ein Abenteuer machen und Leute ins Gespräch kommen würden, die sonst nicht unbedingt etwas miteinander zu tun haben wollen – das war freilich nicht vorherzusehen. Ursprünglich wollte die Bahn nichts anderes, als die 25.000 leeren Stop-and-go- Züge besser auszulasten, die an jedem Wochenende durch die Gegend stottern.
Zweiter Stopp, Rehbrücke. Weiterfahren. Was für ein ungewohnter Rhythmus. Anhalten. Bergholz. Drei sind zugestiegen, was für eine kleine Welt hier. Vierter Stopp, Wilhelmshorst. Sogar hier gibt es Jungs, die sich modische Kangolmützen über den Kopf ziehen. Fünfter Stopp, Michendorf. Ich bin gerade mal eine halbe Stunde unterwegs, das Wort „Hamburg“ auf dem Computerausdruck bekommt auf einmal einen Zauber, klingt nach Verheißung, hat etwas von einem großen Ding, das sich nur selten im Leben ereignet. Berlin–Hamburg in zehn Stunden, über Magdeburg, Braunschweig, Hannover, will ich das wirklich? Im Nachbarabteil zischelt ein Walkman, der Zug setzt seinen gleichförmigen Sound dagegen; es passiert nichts – oder jedenfalls nicht viel. Wo sind die Massen? Wo die 150.000, die an jedem der letzten Wochenenden als Unbekannte auf Deutschlandtournee gegangen sind? Erste Zweifel kommen auf, ob Jugendliche in den Zügen tatsächlich Parties feiern; ob Menschen tatsächlich 15 Stunden von Greifswald nach Garmisch fahren, um für eine sehr kurze Nacht bei ihrer Liebe zu sein. Aber das Alleinsein ist auch nicht schlecht: raus aus der Stadt, durch die Wälder, noch nie gehört von diesem Ort und weiter. Jemand reißt die Schiebetür auf: „Ihre Fahrkarte bitte!“ Ich habe keine. Ich löse das Ticket erst jetzt, kostet trotzdem nur 15 Mark. Die Schaffnerin trägt auf dem schmalen Streifen die Reiseroute ein: Unter „Von“ macht sie einen Strich, unter „Nach“ notiert sie: „Schönes Wochenende“. Die neue Reisewelle nach Nirgendwo – an diesem Wochenende wird der millionste Billigtraveller unterwegs sein – ist alles andere als zeitgemäß. Immer mehr Menschen möchten rasch irgendwie von A nach B kommen. Ob mit Flugzeug oder per Internet, mit dem Auto oder dem ICE – Hauptsache schnell. Beim Wochenendbummeln dagegen spielt Zeit eine ganz andere Rolle. Um Geld zu sparen, entdecken Reisende zwangsläufig die Langsamkeit, und sie freunden sich damit an.
Wenn auch nur langsam. Denn was ist schon zu tun, wenn man einerseits eineinhalb Stunden Zeit hat – diese aber in Roßlau an der Elbe verbringen muß, wo man gerade eben fahrplangemäß um 16.11 Uhr ausgespuckt wurde? Ich betrete nach langem Suchen das einzige Eiscafé weit und breit. „Ein Fremder!“ Zwei dreizehnjährige Mädchen setzen sich zu mir, weil sie sich langweilen, und wir reden über Madonna und fehlende Jugendclubs.
Umziehen mit der Bahn – eine preiswerte Sache
Nicht einmal an den Wänden gibt es hier blühende, aber immerhin glühende Landschaften: ein Sonnenuntergang in der Karibik als Poster, vor dem Männer um die Fünfzig sitzen, Bier trinken und von Zukunft reden. Es dämmert schon, auf einmal vergeht die Zeit sehr schnell; seltsame Wege kreuzen sich. Auf der Bank gegenüber sitzt ein jugendlicher Typ mit Zopf und Brille. Um sich herum hat er Pappkartons, bunte Taschen und eine Kiste mit der Aufschrift „Color-TV“ aufgebaut. Rainer, der Graphikstudent, zieht um. „Das ist jetzt das dritte Wochenende, daß ich mit meinem Krempel von Kassel nach Hamburg fahre“, sagt er. „Noch einmal, dann hab ich es geschafft.“ Klar, mühsam sei das schon. „Aber verdammt billig.“ Wir erzählen uns alte WG-Geschichten, graben dabei einen gemeinsamen Bekannten aus und sind schnell in Braunschweig. Die meisten Fahrgäste steigen nur einmal aus – Rainer steigt, trotz Hilfe, dreimal aus und ein.
Vorletzte Etappe. Ab nach Hannover. Der erste Eilzug mit Raucherabteil und voller Besetzung. Der Zufall verschlägt mich zu einer Dreiergruppe, alles Reisebekanntschaften: ein angehender Eishockeyprofi, 23, ein Umweltschutztechniker, 28, und ein Künstler, 44. Auf den Gängen treibt sich eine Horde müder Schüler herum, die von einer Klassenfahrt zurückkommen: 22 Leute, fünf Tickets, macht 75 Mark. Der freie Maler erzählt von der Zeit, als er auf Schiffen angeheuert hat, bis nach Hongkong ist er gekommen, und überhaupt, wie unbeschwert das Leben vor zwanzig Jahren war. Er ist nicht nur in den Siebzigern hängengeblieben; auch im Schienennetz verfängt er sich. Nach dem nächsten Umsteigen hüpft er vor lauter „Ich möchte im nächsten Zug wieder einen Sitzplatz“ versehentlich in einen IC. Damit fährt er dann, statt nach Hamburg, nach Düsseldorf. Und ward nicht mehr gesehen.
Kurz vor Mitternacht, kurz vor Hamburg, gleich ist es soweit. Ich bin da, ich bin da! Erst mal telefonieren, was sonst. Verdammt, die Freunde sind immer noch nicht zu erreichen, nur die Anrufbeantworter grinsen. Also kein Übernachtungsplatz, also werde ich mir die Nacht um die Ohren schlagen und um fünf Uhr morgens den ersten Eilzug Richtung Berlin nehmen. Eiseskälte, schlaksige, gefährlich dreinblickende Gestalten im öffentlichen Untergrund, nichts wie hin in den Mojo-Club auf der Reeperbahn, tanzen, Schnaps trinken, tanzen, dann auf den Fischmarkt, wo es noch nicht mal Fischsemmeln um 4 Uhr morgens gibt, nur Würste, und auch die Bands spielen erst in einer Stunde. Hallo Taxi, zum Hauptbahnhof.
Die Langsamkeit läßt an eine Weltreise denken
Mit dem IC wäre ich in weniger als drei Stunden zurück, allerdings für 63 Mark 60. Was soll's, jetzt nicht aufgeben, rein in den Zug, endlich schlafen. Aber an Schlaf ist gar nicht zu denken. Überall Menschen, Gitarren, Bierflaschen, wir sitzen alle in einem Zug, und alle, das sind zu dieser frühen Stunde mehr, als ein Abteil verträgt. Hier kannst du also Party haben, ob du willst oder nicht! Ich finde doch noch ein Abteil, in dem es stiller ist, lerne die schwangere Schreinergesellin Sabine kennen, die dank Billig-Ticket ihre Mutter in Hamburg besuchen konnte: „Die wollte mir unbedingt über den Bauch streichen.“ Wir löschen das Licht und schlafen, verschlafen Hannover, wo wir hätten umsteigen müssen, sind jetzt in Göttingen, wo sich unsere Wege wieder trennen.
Die letzten fünf Stunden bin ich mit einem Rentner unterwegs, der von Frankfurt zu seiner Frau nach Berlin fährt, mit der er seit 60 Jahren verheiratet ist. Von einem Bekannten hatte er den Tip mit dem „Wochenend“-Ticket. Der 78jährige ließ sich überreden, die Fahrt wurde für ihn zu einem Kraftakt: „Ich mußte schon fünfmal umsteigen. Das ist Wahnsinn. Man weiß nie, zu welchem Gleis man muß.“ Der zunehmend Verwirrte lädt mich auf ein Nachmittagsbier ein und hat offenbar das Gefühl, als wäre er auf einer halben Weltreise: Unvermittelt redet er mit dem Kellner auf englisch. „We must go, our next train is coming soon.“ Der Kellner lächelt sanft.
Selbst wenn es Fahrgäste gibt, die wie der Rentner „nie wieder dieses Ticket kaufen“ – Hartmut Sommer, Pressesprecher der Bahn, ist zufrieden. Seit das Ticket am 4. Februar eingeführt wurde, hat die Bahn zusätzliche 14,8 Millionen Mark eingenommen. Davon sind erhöhte Rangierkosten und ein noch auszuhandelnder Betrag an die beteiligten Verkehrsverbünde (bisher Hamburg, Rheinland-Neckar, Karlsruhe) abzuziehen. Besonders beliebt seien Fahrten in Naherholungsgebiete wie München-Garmisch oder auch an Ost- und Nordsee. „Für Kids“, sagt Sommer, „ist das ein kommunikatives Muß-Erlebnis: Man muß das mal gemacht haben, um mitreden zu können.“ Überlastungen von Zügen gebe es nur vereinzelt, und im Extremfall – bei Großveranstaltungen – würden einfach zwei, drei Waggons zusätzlich eingesetzt. Laut Sommer wird es auch im Sommer keine größeren Probleme geben. „Das Angebot gilt auf jeden Fall bis Ende des Jahres.“
Sonntag abend, kurz vor sieben, selbst das letzte Stück Heimweg ist ein Schienenstrang. Ich schaue aus dem Fenster und sehe diesmal nur die grauen Wände des U-Bahn- Schachts, und ein müdes Gesicht davor – mein eigenes. Nachdem ich mehr als 23 Stunden durch die Gegend gerollt bin, sagt mir meine innere Raum-Zeit-Uhr: eigentlich müßtest du jetzt in Rom sein. Oder in Moskau. Oder in Barcelona. Irgendwo, weit weg.
Statt dessen: „Alle aussteigen.“ Schönhauser Allee. Der Zug endet hier. Ich gehe in eine Bar und muß an die verträumte Unbekannte denken, die eben noch im letzten Eilzug nach Berlin saß und ausgerechnet „Die Entdeckung der Langsamkeit“ gelesen hat. Langsamkeit, sage ich leise vor mich hin, so eine Blödsinn.
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