Etwas sein und machen

Gesichter der Großstadt: Tillmann Römer schlug vor, eine Fahrrad-Demonstration auf der Stadtautobahn zu machen – „und alle dachten, ich spinne“  ■ Von Christian Arns

Tillmann Römer gefällt seine eigene Idee, -zigtausend Menschen über die Avus radeln zu lassen. „Das war die erste Formel-1- Rennstrecke, da fuhr der Silberpfeil, das ist eine Legende“, sagt er über die Autobahn, die gestern nachmittag für Radfahrer reserviert wurde. Mit beiden Händen streicht er seine schulterlangen braunen Haare zurück, als habe er eine enorme Mähne zu bewältigen. Er überdenkt kurz das Gesagte, nickt zufrieden: „Das mußte einfach mal sein.“ Zur Zeit ist er Sprecher für das Netzwerk Klimagipfel, dem Zusammenschluß der lokalen umwelt- und entwicklungspolitischen Initiativen. Doch als er diesen den Vorschlag unterbreitet habe, erzählt der 49jährige, habe niemand geglaubt, daß die Idee verwirklicht werden könnte, „und alle dachten, ich spinne“.

Diese Urteil ist Römer gewohnt, denn spontane Ideen verdrängt er beinahe nie aus dem Kopf, nur weil sie etwas abwegig klingen. Wie aus heiterem Himmel springt er während eines Gesprächs auf, rast zum Telefon und ruft Freunde an, die ihm helfen könnten. „Sag mal, kennst du jemand, der einen Laster hat?“ fragt er eine Freundin unvermittelt um viertel vor zwölf in der Nacht vor der Fahrrad-Sternfahrt. „Wir haben nämlich zwei Dinosaurier zu transportieren.“ Wer Tillmann Römer kennt, glaubt trotz des Datums nicht an einen Aprilscherz, und so antwortet auch die Angerufene, als habe er den normalsten Wunsch der Welt geäußert.

„Man muß etwas sein und machen“, erklärt er seine Philosophie, wegen der er schon in den Sechzigern zum Buddhismus übergetreten ist, „nicht immer nur reden und wollen.“ Doch bei den meisten Menschen der westlichen Welt scheitere das Sein schon daran, daß sie die Lebensform noch nicht gefunden hätten, die ihnen entspricht. Kaum jemand sei bereit, die übliche Lebensweise in Frage zu stellen, meint er. Darin sei auch die Angst vor Fremden begründet, die oftmals in Aggression umschlage. Sein erstes Gegenmittel, das er keinesfalls als Patentrezept mißverstanden wissen will, ist der direkte Blickkontakt.

„Ich schau dir in die Augen, Kleines – das sagen sie alle, aber sie sollten es auch mal tun“, bemüht Römer den Bogart-Bergman- Klassiker. Wer anderen „nicht auf die Schuhmarke oder das Krokodil am Hemd“ gucke, sondern in die Augen, könne erheblich mehr erreichen, findet Römer. Seine flache Brille sitzt dank langer Bügel fast auf der Nasenspitze, seine Gesprächspartner hat er meistens fest im Blick.

Doch immer wieder schweift er ab, sieht durch den Raum, erzählt unvermittelt Anekdoten. Von seinen 15 Jahren in Kolumbien zum Beispiel, wo er im Auftrag der UNO und der deutschen Gesellschaft für technische Zusammenarbeit jungen Leuten beigebracht hat, „wie man Radio macht, eine Videokamera bedient oder ein Faltblatt herstellt“.

Erfahrung mit unterschiedlichen Medien hatte der gebürtige Stuttgarter damals bereits. Nach seinem Abitur, das er in Berlin gemacht hat, arbeitete er zunächst in Hamburg für die Bild-Zeitung, später für den Springer-Auslandsdienst in Paris, „wo mein politisches Bewußtsein wuchs“. Den Job schmiß er für ein Politikstudium am Berliner Otto-Suhr-Institut, „wie es '68 weiterging kann sich jeder vorstellen“. Als der Fachbereich als Kern der ausgebliebenen Revolution dichtgemacht wurde, ging er nach London. „Ich hatte die Faxen dicke.“

Während Römer einen Bleistift systematisch in einzelne Späne zerlegt, erzählt er von ersten Video- Erfahrungen, die er am Londoner Forschungsinstitut für Kunst und Technik gemacht habe. Römer ist eitel und stolz auf sein bewegtes Leben. So läßt er ganz beiläufig einfließen, daß die Video-Ausrüstung dem Institut von John Lennon geschenkt wurde.

In Kreuzberg und Wedding habe er später Nachbarschafts- Fernsehen ins Leben gerufen, berichtet er weiter, während ihm eine Büroklammer zum Opfer fällt. Aber das Gewerbeamt Wedding habe nicht einmal eine Kategorie für seine Tätigkeit gefunden, und unterstreicht damit, daß er seiner Zeit voraus gewesen sei. Lachend fügt er hinzu: „Ich habe das als Reisegewerbe anmelden müssen.“

Stolz berichtet er auch von den Erfolgen des Vereins Release zur Bekämpfung der Rauschgiftgefahr, den er begründet habe. „Wir haben den coolen User propagiert und über 90 Prozent runtergekriegt von der Sucht.“ Dennoch sei der Verein „als anarchistische Keimzelle eingeschätzt und zerschlagen“ worden. Für drei Jahre habe er daraufhin nach Kolumbien gehen wollen, sagt er. Römer blieb fünfmal so lange und gründete in Südamerika eine Familie.

Die Lebensart dort habe ihm besser gefallen, „die ist menschlicher, hier ist alles hektisch und profitorientiert“. Er gibt jedoch zu, „im Moment eher im hier üblichen Stil zu leben“. Kollegen, die zur Zeit im Netzwerk mit ihm zusammenarbeiten, formulieren das deutlicher: „Der ist ein Workaholic.“