Die Frau nach dem Bundeskanzler

■ Auf dem Parteitag der SPD blieb Ingrid Stahmer blaß

Niedersachsens Ministerpräsident Schröder ist ein hemmungsloser Rhetoriker. Als er am Freitag abend in der Kongreßhalle am Alexanderplatz die Berliner SPD auf den Wahlkampf einschwor, schreckte er vor keinem Vergleich zurück. Berlin nannte er im gleichen Atemzug wie New York, Ingrid Stahmer beneidet er, weil sie ab dem 22. Oktober nach ihrer Wahl zur Regierenden Bürgermeisterin von Berlin in der Republik gleich nach dem Bundeskanzler komme. Tosender Applaus im Publikum von rund 130 Parteifunktionären.

Doch hätte Schröder bloß nicht diese fiesen Vergleiche gemacht. So fiel nur noch mehr auf, wie wenig Glanz Berlin und wie wenig Kraft Stahmer bislang ausstrahlen. Sie selbst entschuldigte sich fast für ihren politischen Stil. Sie stehe nicht für Schnellschüsse, sondern für wohlüberlegte Konzepte, die sie an diesem Abend überraschenderweise verschwieg. Statt dessen erzählte Stahmer über die Nachbarn in ihrem Haus in Wedding, um am Ende auf den „Reichtum unterschiedlicher Erfahrungen“ zu sprechen zu kommen. „Mehr Miteinander, mehr Zuhören, mehr Toleranz“, entdeckte Stahmer „als das Gebot der Stunde“. Den Genossen gefiel das irgendwie. Sie klatschten brav.

Manche scheinen allerdings gar nicht auf die von Schröder beneidete Spitzenkandidatin zu hören. Das Gebot der Stunde war jedenfalls schneller als in 60 Minuten vergessen. Mit der ihnen zustehenden Rente für ihre Abgeordnetenhauszeit wollen sich Leute wie Tino Schwierzina oder Knut Herbst nämlich nicht begnügen und stritten munter drauflos. Sie wollen zusätzlich 2.300 Mark „Altersentschädigung“ monatlich, die ihnen per Gesetz nicht zusteht. Knut Herbst verwahrte sich gegen den Vorwurf von „Privilegien“ und geriet außer sich, als der Parlamentarische Geschäftsführer Helmut Fechner bei dem geplanten D-Mark-Coup nicht in Begeisterung ausbrach. „Wieviel verdient der?“ schnaubte Herbst im Publikum, „10.000 oder 12.000 Mark im Monat?“

Es lag auch an Ingrid Stahmer, daß der Parteitag in dieser brisanten Sache vorsichtshalber einen Antrag gegen die indirekte Diätenerhöhung an ein innerparteiliches Gremium überwies. Denn der Spitzenkandidatin fehlte die Meinung, weil sie sich um diese Angelegenheit angeblich noch nicht kümmern konnte. Gibt es etwa wichtigere Fragen für Ingrid Stahmer? Will sie doch nicht wichtigste Frau nach dem Kanzler werden? Dirk Wildt