Wenn Dummheit zum Siege führt

Auch Schachgroßmeister haben ihre Schwierigkeiten mit dem Schachcomputer  ■ Von Thomas de Padova

Im Jahre 1792 erregte eine schreibtischgroße Schachmaschine auf dem Bostoner Jahrmarkt großes Aufsehen. Hinter der geheimnisvollen Apparatur aus Drähten, Hebeln und Magneten saß eine Figur in türkischer Tracht. Roboterähnlich führte die Puppe jeden der vom Publikum zugerufenen Züge aus und reagierte blitzschnell mit dem Gegenzug. Edgar Allan Poe, damals Journalist der Bostoner Tageszeitung, lüftete das Geheimnis des unbesiegbaren Automaten. Er löste einen Feueralarm aus, und ein Liliputaner sprang in Panik aus dem Kasten hervor.

Gut zweihundert Jahre später geben die Schachmaschinen erneut Anlaß zu Sensationsberichten. Weltmeister Garri Kasparow wurde im vergangenen Jahr von Bild zum „Verlierer des Jahres“ erklärt, nachdem er bereits zum zweiten Male vor großem Publikum bei Kurzpartien von einem Schachcomputer bezwungen worden war. Doch während sich im Inneren der Schachmaschine von einst noch der wirkliche Genius eines meisterlichen Spielers verbarg, beherrschen moderne Schachprogramme wie die Kasparow-Bezwinger „Chess Genius“ und „Fritz 3“ kaum mehr als die Grundregeln des königlichen Spiels. Ihr Schachwissen ist mit dem eines Anfängers vergleichbar, der ein paarmal in ein Lehrbuch geschaut hat. Die „künstliche Intelligenz“, wie sie der ehemalige Weltmeister Mihail Botwinnik seit mehr als zwanzig Jahre prophezeit, läßt nach wie vor auf sich warten.

Handelsübliche Schachprogramme sind keine Intelligenzbestien, sondern superschnelle Taktikmonster. Sie beruhen auf der Idee, alle Fortsetzungen des Spiels vorauszuberechnen und für eine abschließende Beurteilung schlicht den materiellen Wert der weißen und schwarzen Spielfiguren gegeneinander abzuwägen. Ihre Spielstärke hängt somit fast ausschließlich davon ab, wie weit diese Vorausberechnungen reichen. Schnelligkeit allein hilft dabei freilich nicht. Würde der Computer vor jedem Zug tatsächlich sämtliche möglichen Varianten durchrechnen, so käme er nicht weit. Geht man von rund 40 Zugmöglichkeiten pro Stellung aus, so wäre bereits bei einer Suchtiefe von 4 Halbzügen die Kalkulation von 40 x 40 x 40 x 40, also mehr als zweieinhalb Millionen Varianten erforderlich.

Um diese Zahl zu reduzieren, werden den Programmen Auswahlregeln beigefügt. Auch diese Selektion wird allerdings nicht durch Schachwissen, sondern durch allgemeine Techniken und Algorithmen erreicht, die der Programmierer auch aus schachfernen Bereichen kennt. Auf diese Weise erzielt ein Schachprogramm wie Fritz 3 bei aussichtsreichen Stellungen im Mittelspiel eine Suchtiefe von bis zu 25 Halbzügen. Bei nur wenig verbliebenen Figuren ist sie unter Umständen mehr als doppelt so hoch.

Ein Schachgroßmeister rechnet niemals soweit. Er bewertet Positionen zunächst ohne jegliche Berechnungen, allein aufgrund von allgemeinen Stellungsmerkmalen, wie etwa Wirkungskreisen der Figuren, offenen Linien oder schwachen Punkten. Danach entwickelt er einen Plan und wählt eine geringe Zahl von Varianten aus, die er in seinem Kopf durchspielt. An einem bestimmten Punkt bricht er die Analyse ab und fällt erneut ein Urteil. Angst oder Übermut beeinflussen manchmal sein Spiel.

Als Igor Glek bei einem Großmeistertunier in Bonn-Bad Godesberg im Januar dieses Jahres einen Läufer an Fritzens Königsflügel opfert, ist er sicher: „Das muß gut sein!“ Doch drei Bauern und ein eindrucksvoller Angriff sollen dem russischen Großmeister wider alles Schachwissen nicht genügen. Das Schachprogramm kennt keine Furcht und wählt eine völlig unkonventionelle, offensive Verteidigung. „Noch nie mußte ich in einer Partie so viel rechnen wie heute“, klagt der spätere Turniersieger nach dem erlösenden Remis. Fritz 3 erzielt in dem hochkarätigen Teilnehmerfeld nach elf Runden das bislang beste Ergebnis eines PC-Programms in einem regulären Großmeisterturnier.

Alexander von Gleich, Spitzenspieler in der Bundesligamannschaft des Godesberger Schachclubs, weiß, was Spielern wie Glek Kopfschmerzen bereitet. 1.000 Blitzpartien mit nur fünf Minuten Bedenkzeit für jeden Spieler hat er innerhalb von zwei Wochen im Auftrag der Firma CessBase gegen Fritz gespielt, um das Computerhirn zu testen. Die traurige Bilanz für den Bundesligaspieler: In 75 Prozent der Spiele mußte er sich geschlagen geben. „Der Computer bestraft jeden Fehler gnadenlos“, resümiert von Gleich. Und in schnell gespielten Schachpartien mache der Mensch eben leicht Fehler, auch ein Weltmeister.

„Ich habe mich darum bemüht, eine Strategie zu entwickeln, wie man am besten gegen den Computer spielt.“ Gegen den Rechner, dessen Stärken im kombinatorischen Spiel lägen, müsse man ruhige, geschlossene Stellungen anstreben. „Denn der Computer spielt ohne Plan. Für ihn ist Schach ein rein taktisches Spiel. Darin liegt seine Stärke, aber gleichzeitig seine Schwäche. Irgendwo ist nämlich auch seine Rechenmöglichkeit erschöpft. Der Mensch kann darüber hinaus denken.“

Die meisten Spieler haben sich inzwischen auf die Schachprogramme eingestellt. Der Computer dient ihnen längst nicht mehr nur als umfangreiche Datenbank und ständig spielbereiter Trainingspartner. Er ist eine echte Herausforderung für sie geworden, selbst für den mehrfachen Deutschen Blitzmeister, Karl-Heinz Podzielny, der wie manch anderer Schachspieler gegen den Einsatz der „Blechkisten“ bei Turnieren wettert. „Es kommt doch auch niemand auf die Idee, gegen einen Ferrari zu laufen.“

Wenig später sitzt auch er am Tisch und zockt mit dem zähen „Schraubensack“. Dabei wählt er bisweilen absichtlich „schlechtere“ Züge, um die eigenen Qualitäten in einem geeigneten Stellungstyp besser zur Geltung bringen zu können. Eine ganze Reihe regelrechter „Anti-Computer-Systeme“ ist mittlerweile auf diese Weise entstanden. Weltmeister Kasparow wird sich diese Blöße bei seinem nächsten großen Mensch-Computer-Schaukampf Ende Mai im Fernsehstudio des WDR sicherlich nicht geben.