Viel Regen

■ ... wenig Segen unter den BBC-Newcomern des Prix Futura

Es ist kurz vor neun am Mittwoch morgen. Heroisch gegen den Schneesturm gestemmt, kämpft sich eine Gestalt zum „Prix Futura“ im Berliner Haus des Rundfunks durch. Unterm Arm sichtbar ein Heft mit dem Titel „Lost Memories“. Was für ein schönes, vielsagendes Bild.

Wie immer bei dieser „Woche der Programmprüfung“ von Radio und Fernsehen zieht's mich zum Hörspiel-Nachwuchs, der am meisten mit dem Kürzungs- und Abschaffungssturm der Sender zu kämpfen hat. Das Testergebnis war im ersten Teil der Woche leider so bedrückend, wie es die schneezerzauste Figur (ein BBC- Newcomer-Preisträger aus besseren Tagen) bedeutete: „Lost Memories“, indeed! Denn im Gegensatz zur Situation noch vor zwei Jahren scheint die „Jugend“ nun ratlos auf der Stelle zu treten. Als sei die Lust am zeitgemäßen Klangbild beim Gerangel um Pöstchen und Jöbchen gänzlich verpufft. „Das ist die Ruhe vor dem Sturm“ des Generationswechsels – kommentiert eine Kollegin den Hörsturz ein bißchen euphemistisch. Gerade so, als hätten sich die Newcomer aller Länder abgesprochen, kollektiv auf „Nummer Sicher“ zu produzieren, tauchten altbewährte Themen, Stories in bekanntem Inszenierungsmuster auf. So wehte aus dem Norden Europas ein aufgewärmter Existentialismus in unser Abhörstudio. Als hätte es nie eine elaborierte Klangkunst gegeben, werden auf trockener Tonspur Texte einfach abgelesen! Und das in einer Art, die ihren inhaltlichen Vorbildern der vierziger und fünfziger Jahre leider jene Sinnlichkeit raubt, die seinerzeit das Original belebte.

Auffallender Klangeffekt: Es regnet viel im „neuen“ Hörspiel. Ab und zu beklimpert Keith Jarrett den ansonsten lärmtoten Raum. Wir hörten den innerlichen Existentialismus aus Belgien („As on the First Day“), in dem verkrampft auf Kühlerhauben und in düsteren Hotels gevögelt wird. Wobei die Frau als mythisch-gesichstlose Urkraft dem Helden wieder auf die löchernen Socken hilft. Wir wurden auch Ohrenzeugen des Science-fiction-Existentialismus aus Dänemark („The Happy Children“) – darin ein investigativer Journalist im strömenden Regen der Wahrheit hinterherjagt. Dann aus Protest gegen ein Vertuschungssystem die korrupte Fotografin vergewaltigt und schließlich bei seinem frischgeborenen Stammhalter Hoffnung für die Zukunft schöpft. Hach, Mann müßte man sein und aufrecht das Schicksal herausfordern können! Ähnliche Inszenierungen kamen aus Argentinien („Cronopios“) und Norwegen („Continental Heaven“). Nach seinen Versuchen der letzten Jahre, den politischen Umsturz auch künstlerisch zu bewältigen, brachte der Osten Europas nun wieder die gewohnte Absurdität nach Berlin. Und das vor allem als konventionelles Stimmtheater. Selbstmord, obstruse Bedrohung und metaphernverdächtige Tierquälerei – das alles ging recht zäh und brav über die Hörbühne. Bei soviel Gleichklang beschlich einen irgendwann ein Manipulationsverdacht: Hatte vielleicht die Wettbewerbsleitung ...? Doch der wurde von Susanne Hoffmann – neben Peter Leonhard Braun Hausherrin der „Kommunikations-Arena“ – abgeschmettert: Dies sei der Spiegel der Radiozeit, denn nicht eine internationale Einsendung zum Preis der Newcomer war abgelehnt worden.

Gegen Ende der Woche kam dann doch die langersehnte Gutwetterfront – und mit ihr wurden die BBC-Hörstücke frischer. „Another Endless World“ – ein improvisiertes Live-Hörspiel aus Tschechien versetzte die Delegierten in Heiterkeit und trug dem Autor Jaroslav Dušek die verdiente „Lobende Erwähnung“ ein. Von einem Free Jazzer unterstützt, erfindet der begnadet witzige Stimmakrobat die abgedrehte Geschichte von Vaclav und Marie und ihren vielen Kinderchen. Ein gesellschaftssatirischer Plot, den Achternbusch und Ionesco beim Saufen hätten aushecken können ...

Die Soap-opera „Blauberg“ – ein gelungener Griff des Radios nach den Youngsters unter Zwanzig – war zudem der mutige Versuch des ORF, mal nicht nur „Kunstfunk“ einzureichen. Auch wenn die Kulturpessimisten heimlich kochten: Aus dieser Richtung wird demnächst noch mehr zu hören sein. Wovon die abendländische Radiokunst auch nicht untergehen wird, weil die „gehobenen Genres“ ihr eigenes Publikum haben. Und wo wir gerade bei den Gattungen sind: Ein Seitensprung in die Feature-Sektion enthüllte die erfreuliche Tendenz des Dokumentarischen, mit dem Poetischen zu flirten. Daß bei den etablierten „Großen“ die vielgelobte Dante- Adaption „Radio Inferno“ (Andreas Ammer/FM Einheit, BR) und der surreale Zeitgeistthriller „Krok“ (Eberhardt Petschinka/ Helmuth Mössmer; Schweizer Radio DRS 1) die beiden saftig dotierten Futura-Preise erhielten, war nicht nur ein Sonnenstrahl in dieser radiophonen Schneelandschaft. Es kittet auch mein oft strapaziertes Vertrauen in die Zukunft der Hörspiel-Autoren. Gaby Hartel