■ Der kurdisch-türkische Konflikt
: Eine Erwiderung

Der kurdisch-

türkische Konflikt

Eine Erwiderung

Die gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Türkei springen auf Deutschland über – so das Thema der Intertaz vom 21. März. Ursachen und Lösungswege aus dem Dilemma müssen auch hier gesucht werden. Wir veröffentlichten dazu Auszüge eines Diskussionspapiers des Instituts für türkisch-europäische Beziehungen und setzen heute die Debatte fort mit einer Erwiderung von Mehmet Sahin, Vorstandsmitglied der Komkar (Verband der Vereine aus Kurdistan).

Die Kurden gelten in der Türkei als „Bergtürken“ (im Iran als Perser und im Irak und Syrien als Araber), und sie haben nur ein einziges Recht: „den Türken zu dienen“ (Kemal Atatürks Justizminister Mahmut Esat Bozkurt im Jahre 1930).

Dank dieser Haltung konnten sich zahlreiche Kurden in der Tat, wie das Diskussionspapier erwähnte, zu hohen Posten im Staatsapparat hochdienen. Aber wer auf seiner Herkunft besteht und Rechte für Kurden einfordert, wie die Beispiele der DEP-Abgeordneten oder des berühmten Schriftstellers Yasar Kemal sowie der über 100 Intellektuellen zeigen, wird verfolgt und in die Gefängnisse gesteckt.

Das Recht auf Selbstbestimmung gilt nur für andere Völker. Wenn jemand die Umsetzung dieses Rechtes für das kurdische Volk fordert, wird er sogar von vielen Teilen der türkischen Linken als „Separatist“ eingestuft. In ihren Augen gibt es nur deshalb eine Kurdenfrage, weil die „äußeren Mächte“ dies immer wieder auf die Tagesordnung der Türkei setzen und die Türkei damit zu schwächen versuchen.

Kurden werden in der Türkei verbal zu „Bürgern 1. Klasse“ stilisiert, die keine Rechte brauchen. Es sind die dummen Deutschen und alle anderen Europäer, die das nicht verstehen wollen. So funktioniert die kemalistische Indoktrination.

Kommen wir zum Kern der Problematik: Vor den Augen und mit Duldung der Weltöffentlichkeit wird die Unterdrückung, Vertreibung und Vernichtung eines der ältesten Völker des Nahen Ostens, das nach den Arabern und Türken die drittgrößte Bevölkerungszahl hat, weitergeführt.

Die Kurdenfrage gehört zu den nicht gelösten nationalen und politischen Problemen der Welt, und die kurdische Wunde blutet seit zwei Jahrhunderten.

Die Gewaltspirale in Kurdistan hat sich in den letzten Monaten schwindelerregend gedreht. In der Heimat der in der Bundesrepublik lebenden 500.000 Kurden bestimmmt ein schmutziger und blutiger Krieg, bei dem fast die Hälfte der 800.000 Mann starken türkischen Armee, mit Unterstützung von über 60.000 Dorfschützern und mehrerer tausend Spezialteams, eingesetzt wird, den Alltag von Millionen von Menschen.

Infolge dieses Krieges wurden über 2.000 Dörfer zerstört, über drei Millionen Menschen vertrieben und über 20.000 Menschen ermordet.

Der Westen, vor allem die Bundesrepublik Deutschland und die USA, hat zu diesem Zustand fleißig beigetragen. Mit ihren enormen Waffenlieferungen allein durch die Bundesregierung in Höhe von sieben Milliarden Mark, mit ihrer wirtschaftlichen und politischen Unterstützung sind sie für Elend und Leid der Kurden sowie für die Folgen dieses Krieges mitverantwortlich.

Die Bundesregierung müßte daher dringend ihren politischen Kurs ändern und das Gegenteil tun: nämlich auf die Türkei Druck ausüben und die Zusammenarbeit auf allen Ebenen von der Beendigung des Krieges, der Einhaltung der Menschenrechte und Gewährung und Anwendung der Rechte des kurdischen Volkes abhängig machen.

Denn mit über 70 Milliarden Dollar Auslandsverschuldung, mit über 150 Prozent Inflationsrate, mit einer Kriegsausgabe, die die Hälfte des 30-Milliarden-Dollar-Haushaltes verschlingt, kann der türkische Staat diesen schmutzigen Krieg ohne die Unterstützung der Bundesrepublik und des Westens nicht länger finanzieren und durchführen.

Der sinnlose Krieg, der nur Vernichtung und Zerstörung verursacht, die Ressourcen des Landes vergeudet und dem kurdischen und türkischen Volk nur noch Leid und Schaden zufügt, muß sofort beendet werden. Mit jedem verlorengegangenen Tag werden die Aussichten für ein künftiges friedliches Zusammenleben zwischen Kurden und Türken geringer.

Trotz der Vernichtungspolitik des türkischen Staates ist die kurdische Bewegung zu einem politischen Dialog und zu einer friedlichen Lösung bereit und hat ihre Vorschläge und Forderungen mehrfach auf den Tisch gelegt.

Wenn die türkische Regierung es will, kann der Friedensprozeß in Kürze beginnen, indem die türkische Regierung

– den Krieg und das Blutvergießen beendet,

– die Massendeportationen der Kurden aus ihrer angestammten Heimat, die Zerstörung der Dörfer und der Natur einstellt und Mittel zur Rücksiedlung der ehemaligen Bewohner bereitstellt,

– den Ausnahmezustand aufhebt, die zugehörigen Institutionen abschafft und die Spezialteams und das Dorfschützersystem auflöst,

– die Rede-, Presse- und Meinungsfreiheit, die Verankerung der kurdischen Identität in der Verfassung und die Gleichstellung des kurdischen mit dem türkischen Volk, die Zulassung und Anwendung der kurdischen Sprache in allen Bereichen und

– die Zulassung kurdischer Parteien und Organisationen gewährleistet.

Nur durch Verwirklichung dieser Vorschläge kann man beginnen, die Kurdenfrage friedlich und gerecht zu lösen. In einer demokratischen Türkei können und wollen die Kurden mit dem türkischen Volk in einem Bundesstaat gleichberechtigt leben.

Und nur mit einer vernünftigen Politik kann man auch die Auswirkungen dieses schmutzigen Krieges in der Bundesrepublik beseitigen. Die Mitverantwortung der Bundesregierung an den Verheerungen in Türkisch- und Irakisch-Kurdistan bedarf keiner weiteren Beweise.