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Wenn die Bevölkerung zur Geisel wird

■ In Algerien herrscht Terror von zwei Seiten. Das Regime hat die Islamisten durch seine Korruptheit erst stark gemacht. Und die islamistischen Todesschwadronen schächten jeden, der ihren Wahn bekämpft..

„Angst? Nein, es ist keine Angst. Ich bin – wie sagt man? –, ich bin paranoid.“ Mit zittriger Stimme beschreibt die 21jährige Hudda ihren Zustand. Ihr zierlicher Körper bebt dabei, das kindliche Gesicht ist verzerrt. „Bei jedem Geräusch, das ich höre, und bei jeder Bewegung, die ich registriere, zucke ich zusammen. Ich habe das Gefühl, auf Schritt und Tritt vom Tod verfolgt zu werden.“ Über ihr traumatisches Erlebnis will sie nicht sprechen. „Nein! Bitte erinnere mich nicht daran!“ ruft sie und läuft aus dem Zimmer.

„Sie hat sich zwei Monate lang geweigert, ihr Bett zu verlassen“, berichtet ihre Mutter. „Der Psychiater hat sie jeden Tag besucht.“ Hudda ist gefährdet, weil ihre Mutter, Hassiba, einen der riskantesten Berufe Algeriens ausübt – Hassiba ist Journalistin.

Gemeinsam mit einigen Freundinnen hat sie es geschafft, Hudda wieder dazu zu bewegen, zur Universität zu gehen. Gewöhnlich verpaßt die Studentin jedoch die ersten Unterrichtsstunden. Am frühen Morgen traut sie sich nicht vor die Tür. Bevor sie das Haus verläßt, schaut sie aus dem Fenster. Nur wenn sie genügend Menschen sieht, geht Hudda nach draußen.

„Es war früh, die Straßen waren menschenleer, da haben sie versucht, Hudda zu entführen“, erklärt die Mutter. Einige Arbeiter, die zufällig vorbeikamen, verhinderten das Schlimmste. Sie schlugen auf die Angreifer ein, die versucht hatten, Hudda in ein Auto zu zerren. Die Entführer flohen, nachdem sie mehrere der Arbeiter mit Messern verletzt hatten.

Hassiba hat im letzten Jahr zahlreiche Drohbriefe erhalten. „Deine Tage sind gezählt, Du Hure“, stand in einem. Seitdem verläßt Hassiba kaum noch die Wohnung. „Ich lebe wie eine Gefangene, besuche keine Freunde mehr. Das Telefon ist meine Nabelschnur zur Außenwelt.“ Auf die Frage, wer für diese Situation verantwortlich ist, zögert sie einige Sekunden. „Beide“, sagt sie dann, „das Regime und die Islamisten.“ Hassiba hat schon bittere Erfahrungen gemacht, als in dem Land noch die „Nationale Befreiungsfront“ (FLN) herrschte. Sie engagierte sich für Demokratie und Menschenrechte. Die Machthaber warfen sie ins Gefängnis. 1991, bei den ersten freien Wahlen, erteilte die Bevölkerung der FLN eine klare Absage. Weil sich jedoch ein Sieg der „Islamischen Heilsfront“ (FIS) abzeichnete, wurde der zweite Wahlgang kurzerhand abgesagt. Seither beherrscht eine Mafia aus Militärs und ehemaligen FLN-Kadern das Land.

„Obwohl die FLN nicht mehr an der Regierung ist, sitzen immer noch die gleichen Despoten in Schlüsselstellungen beim Militär und bei den Geheimdiensten“, sagt Hassiba, „durch Repression und Korruption haben sie das Land ruiniert. Sie sind für das Erstarken des Fundamentalismus verantwortlich.“ Die Bevölkerung sei zur Geisel geworden, in einem „barbarischen Krieg zwischen den Leuten des Regimes, die nur ihren eigenen Interessen dienen, und den Islamisten, die die Verzweiflung der Jugend artikulieren.“

„Vor dieser Villa wurde ein Richter ermordet“, erzählt Said, ein Berufskollege von Hassiba. Ich begleite ihn bei einer Fahrt in seinem Auto. „Vor diesem Gebäude wurde ein Offizier ermordet“, weiß Said ein paar hundert Meter weiter zu berichten. Und noch ein kurzes Stück weiter: „Hier starb ein Professor. Er wurde vor den Augen seiner Studenten geschächtet wie ein Schaf.“ Vom linken Ohr bis zum Halswirbel hätten die Mörder ihrem Opfer die Kehle aufgeschlitzt, so daß der Kopf fast vom Rumpf abgetrennt wurde.

Eine Stunde fahren wir durch die Straßen von Algier. Dann begleite ich ihn zu einem Glas Tee in seine Wohnung. Said berichtet mit auffälliger Ruhe von einer Greueltat nach der anderen. An die permanente Bedrohung habe er sich gewöhnt. „Wenn meine Stunde schlägt, hoffe ich, daß Gott barmherzig ist und es schnell geschehen läßt“, sagt er, während er die sechs Schlösser der Eisentür aufschließt, die seine Wohnung vor ungebetenen Besuchern schützen sollen. Die Tür habe er sich vor zwei Jahren anfertigen lassen, sagt er lächelnd. Mittlerweile hätten auch alle seine Nachbarn ähnliche Bollwerke vor den Wohnungen.

Doch nicht immer reichen solche Schutzmaßnahmen aus. Said weiß von dem Schicksal eines hohen Beamten zu berichten. Dieser habe nachts gehört, wie sich Einbrecher an seiner Tür zu schaffen machten, und die Polizei angerufen. Doch die weigerte sich, eine Streife zu schicken: Der Einbruch könne ein Köder sein, um Polizisten in eine Falle zu locken. Verzweifelt rief der Beamte einen Bekannten im Verteidigungsministerium an. Als schließlich eine Patrouille der Armee bei dem Anrufer eintraf, war es zu spät. Die Einbrecher hatten die Stahltür weggesprengt und ihr Opfer ermordet.

Es sei die Geographie der Hauptstadt, die es Todesschwadronen erlaube, blitzschnell zuzuschlagen und unerkannt zu entkommen, erklärt Said. „Die Stadt besteht aus einem Mosaik reicher, schöner Stadtteile, die von Armenvierteln regelrecht umzingelt sind.“ Deren Bewohner bildeten ein unerschöpfliches Reservoir für islamistische Organisationen und deren Killerkommandos. Und nicht zu vergessen sei, daß der Krieg schon über drei Jahre dauere. In der Zwischenzeit hätten die Islamisten „zahlreiche Erfahrungen gemacht und dazugelernt“.

Gehen alle Attentate auf das Konto religiöser Todesschwadronen? „Ich glaube nicht, daß ein Muslim solche Morde begeht“, erklärt ein junger Taxifahrer. „Das Regime will die religiösen Gruppen anschwärzen“, behauptet er. Daher würden Sicherheitskräfte islamistische Morde vortäuschen. Mehr will er dazu nicht sagen, dafür gebe es zu viele „Schnüffler“ in der Gegend. Auch seinen Namen mag er nicht preisgeben. Auf die Frage, wo er wohne, antwortet er lächelnd: „In Kabul.“ „Kabul“, so wird unterderhand eines der Armenviertel Algiers genannt, in denen die Mudschaheddin ihre Hochburgen haben.

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