Die Spuren sind nicht sichtbar

■ Eine Ausstellung erzählt von der Vertreibung jüdischer Nachbarn aus dem Bayrischen Viertel

Zehn Mappen liegen auf dem Tisch, gebunden in dickes, weiches Papier. Die alten Fotografien auf den Einbänden stammen aus Familienalben. Ich ziehe mir das Heft mit der jungen Tänzerin heran, die keck auf einem Spitzenschuh balanciert, und lese eine kurze Biographie von Renate Schottelius, aufgewachsen im Bayrischen Viertel. 1929, mit sieben Jahren, begann sie eine Ausbildung an der städtischen Oper Berlin. Fünf Jahre später durfte sie als sogenannte Halbjüdin die Schule nicht mehr besuchen.

Schweren Herzens ließen die Eltern ihre 14jährige Tochter die Einladung eines Onkels nach Argentinien annehmen. „Ich habe viele Jahre gedacht, daß es ein großes Unglück war“, erzählte Renate Schottelius, die später modernen Tanz in Boston und Stockholm lehrte, 1992. „Nach Jahren habe ich herausgefunden, daß ich Glück hatte. Wer weiß – wenn ich diese vorgeschriebene Karriere genommen hätte... Heute bin ich viel gereist, habe in New York studiert, bin mit bekannten Künstlern befreundet.“

Nicht viele der Erinnerungen jüdischer Zeitzeugen, die aus dem Bayrischen Viertel vertrieben wurden, sind so frei von Bitterkeit. „Die deutsche Sprache ist meine Heimat geblieben, Deutschland selbst habe ich ausgewischt. Ich kann es leider nicht anders sagen“, bedauert die Dichterin Ilse Blumenthal-Weiss, die mit einer Tochter Theresienstadt überlebte.

Zwei von neunzig Erinnerungen, erzählt und aufgeschrieben, mit denen das Kunstamt Schöneberg die Geschichte der Vertreibung und Ermordung der Juden dokumentiert. Von 6.069 Juden, die aus Schöneberg und Friedenau deportiert wurden, hält ein Gedenkbuch Namen, Geburts- und Todesdaten fest. Ermordet in den Konzentrationslagern, sind kaum noch Spuren ihres Lebens greifbar. 4.000 Karteikarten, abgeschrieben aus den Akten der Gestapo zur „Einziehung des Vermögens“ der Deportierten, bedecken die Wände dieses Archives auf Zeit. Hinter vielen Namen steht AT: Das bedeutete „Alterstransport“ nach Theresienstadt.

Sprache ist das Medium dieser Ausstellung, die zum Lesen und Hören einlädt. „Es gibt keine äußerlich sichtbaren Spuren der Gewalt“, schrieb Katharina Kaiser, Initiatorin der langjährigen Recherche über die Vertreibung: „Es war Normalität. Und bis heute gibt es keine sichtbaren Spuren.“ Die Erkenntnis der Alltäglichkeit, mit der die Ausgrenzung und Vernichtung der Juden ausgeführt wurde, veranlaßte sie, nach sprachlichen Zeugnissen, Briefen Überlebender, Tagebüchern und amtlichen Aufzeichnungen zu suchen.

Mit der Ausbreitung dieses Materials umgeht sie eine künstliche Inszenierung der Geschichte. So bleibt in den Erzählungen die Perspektive des langen Verdrängens des Erzählten gegenwärtig. Nicht verwischt wird das Fehlen der Spuren jüdischer Kultur, das ihre Vernichtung endgültig zu besiegeln schien.

Diese aktive Geschichtsarbeit liefert ein Modell der Gedenkkultur, das der Suche nach der symbolischen Form wie im Wettbewerb für das „Denkmal der ermordeten Juden Europas“ entgegensteht. Die Beredsamkeit der Erzählungen wendet sich gegen das Schweigen der Trauer. An die Stelle des Pathos des Unsagbaren, das sich den gesellschaftlichen Diskussionen entzieht, rücken die vielen Bilder alltäglicher Entscheidungen, die den Prozeß der Ausgrenzung der Juden in die Tat umsetzten. In der Lebendigkeit der Stimmen und der Widersprüchlichkeit der Gefühle wird eine Geschichte plötzlich nah, die ein monumental inszenierter Ort in die Ferne des Erhabenen abschiebt.

In dieser Nähe liegt auch ein kleiner Betrug. Wenn uns die Vertriebenen mit der Vertrautheit von Mitgliedern aus dem Familienalbum begegnen, täuscht das einen Moment darüber hinweg, daß die Bedingungen für diesen selbstverständlichen Umgang zerstört wurden. Aber es liegt eine befreiende Geste in dem Versuch, an eine Zeit wieder anzuknüpfen, als viele Bewohner des Bayrischen Viertels der Trennung in Juden und Christen keine große Bedeutung beimaßen.

Heftige Kritik ist über Katharina Kaiser schon einen Tag nach der Eröffnung hereingeprasselt. Sie betraf den dritten Ausstellungsraum, der in kurzen Hörstücken nichtjüdische Erinnerungen wiedergibt. Da habe sie wieder nur den schlechten Deutschen dargestellt, statt sich einen Widerstandskämpfer zum positiven Helden zu suchen. Sie aber hat die abwehrenden Wendungen, die aus den Lautsprechern wispern, – „alle, alle weg, man hat gar nichts mitbekommen“ – als durchschnittlichen Kommentar einer durchaus gebildeten Schicht erfahren, die im Bayerischen Viertel zu Hause ist. Katrin Bettina Müller

„Formen des Erinnerns“, bis 2. Juli. Haus am Kleistpark, Schöneberg