piwik no script img

Ethnologische Blicke

■ Der Osten wird modernisiert, die Soziologie übt Bescheidenheit. Eindrücke vom Soziologiekongreß in Halle

Für Halle war es ein bemerkenswertes Ereignis: die größte Ansammlung von Soziologen seit Gründung der Stadt. Mehr als zweitausend waren gekommen, um am ihrem 27. Kongreß teilzunehmen. Sie hatten die Möglichkeit, mehr als 300 – teils ausgezeichnete, teils unsäglich schlechte – Fachvorträge anzuhören, alte Bekanntschaften zu erneuern, neue zu knüpfen, und vor allem sich leidenschaftlich jener Tätigkeit zu widmen, die längst auch Gegenstand soziologischen Interesses geworden ist, dem Klatsch. Die Statushierarchien wurden im Medium des Klatsches neu geordnet, einige Reputationen aufgebaut, andere zertreten, das Fach Soziologie erneuerte sich als eine soziale Einheit. Ein kleiner Personenkult entwickelte sich um anwesende Vertreter der älteren Generation wie M. Rainer Lepsius, Friedrich Fürstenberg oder Dieter Claessens. Die Meinung schließlich, daß der Kongreß langweilig sei, gehört zur rituellen Würze der Kaffeepläusche aller großen Kongresse.

Mehr als sonst vielleicht symbolisierte der Ort das Ereignis. „Gesellschaften im Umbruch“ war das übergreifende Tagungsthema, und dieser Umbruch ist in Halle wahrnehmbar. Die Zeiten, als sich die Stadt als zerfallende, graue Häßlichkeit zeigte, sind vorbei. Zwar ist die exzessive Schäbigkeit von einst noch da. Aber es wird auch erkennbar, daß Halle urban und anregend werden kann. Die Zukunft ist offen, und es könnte sogar sein, daß dieser Stadt die Verwandlung in eine Puppenstube nach westdeutschem Schnittmuster erspart bleibt.

Der Umbruch war Thema auf dem Kongreß. Die Soziologie hat die historischen Veränderungen diesmal nicht verschlafen und in vielen Aspekten die konvergierenden und divergierenden Tendenzen zwischen beiden deutschen Gesellschaften untersucht – von lokalen Kommunikations- über politische Wahrnehmungsmuster, sozialstrukturelle Verschiebungen bis hin zu industriellen Beziehungen. Schließlich blieb auch der Vergleich zu osteuropäischen Entwicklungen im Blickfeld.

Allerdings wurde auch eine Art koloniales Gefälle sichtbar, das die wissenschaftlichen Untersuchungen durchzog. Die Mehrheit der Anwesenden kam aus dem alten Westen, auch die Mehrheit jener, die inzwischen an ostdeutschen Universitäten arbeiten. Das liegt teilweise daran, daß die Soziologie in der DDR kein großes Fach war. Wichtiger für das Gefälle aber war offenbar die Richtung des Interesses selbst, das an das Ungleichgewicht in der Ethnologie erinnerte. So erforschen Ethnologen der reichen Industrieländer die kolonialen Gesellschaften, und auch die einheimischen Ethnologen ihrerseits konzentrieren sich auf ihre Herkunftgesellschaft. In gleicher Weise erforschen zwar westdeutsche Soziologen den Osten, für ostdeutsche hingegen ist der Westen kein Thema. Diese Struktur wiederholt sich übrigens im Verhältnis zu Osteuropa.

Dieses Gefälle bedeutet keineswegs, daß die entsprechenden Forschungen nichts taugten. Es ist auch keine Alternative in Sicht. Daß den Kolonisierten eine eigene ausformulierte Perspektive fehlt, daß sie – zuweilen meisterhaft – in den kolonialen Denkformen arbeiten, gehört schließlich zur kolonialen Struktur selbst. Die Forderung nach einer radikalen Alternative bleibt da abstrakt und leer. Daß es das koloniale Gefälle gibt, wurde auf dem Kongreß oft nicht ausreichend mit bedacht.

Das koloniale Gefälle bestimmt auch die theoretische Orientierung. Einer der soziologischen Schlüsselbegriffe der letzten zwanzig Jahre war „Modernisierung“. In den fünfziger Jahren hatte er bereits ermöglicht, den Modernitätsrückstand Europas und anderer unterentwickelter Regionen gegenüber den USA beschreibbar zu machen. Die globalen Veränderungen, vor allem der technische und wirtschaftliche Aufstieg Westeuropas und Japans, haben ihn wieder verwendungsfähig erscheinen lassen. Gesellschaftliche Differenzierung, Distanz, Reflexivität wurden neben anderen zuweilen heterogenen Indikatoren Merkmale, an denen unterschiedliche Grade von Modernität diagnostiziert wurden. Vor diesem Hintergrund wurden etwa die Fragen sinnvoll, ob es sich bei den sozialistischen Gesellschaften überhaupt um moderne Gesellschaften gehandelt habe und welchen Weg weniger moderne Gesellschaften einzuschlagen hätten, um mittels „nachholender Modernisierung“ modern zu werden.

Wie viele andere Schlüsselbegriffe der Soziologie tendiert auch „Modernisierung“ dazu, nicht nur als Entwicklungstendenz, sondern als wünschenswertes Ziel genommen zu werden. Soziale Erscheinungen wurden tendenziell als „unmodern“ getadelt, wenn der Beobachter sie ablehnte. Kriege etwa wurden aus dieser Perspektive als „Rückfälle“ oder als Ausdruck vormoderner gesellschaftlicher Verhältnisse gekennzeichnet, weil Modernisierung den Annahmen der Aufklärung entsprechend zu immer größerer Friedlichkeit führe. Der Berliner Soziologe Hans Joas wies darauf hin, daß es nicht nur angesichts der Kriege des 20. Jahrhunderts nicht besonders sinnvoll sei, Kriege aus der Modernität zu verbannen. Militärisches Denken und Handeln sei im Gegenteil mindestens in gleichem Maße wie die Aufklärung an der Geburt der modernen westlichen Welt beteiligt gewesen.

In der Tat enthält das Modernitätskonzept die Gefahr eines selbst-schmeichelnden westlichen Optimismus, der in der östlichen Blickrichtung in unrealistischen Pessimismus umschlagen kann. Daß die anderen unter der Perspektive eines Fehlens westlicher Merkmale wahrgenommen werden, kann zwar erkenntnisfördernd sein. Daß es kein rechtsstaatliches Bewußtsein gibt, daß die Menschen nach einer massenhaften Mobilisierung zur politischen Apathie neigen, daß sie sich in ethnische Identifikationen flüchten, daß sich sozialromantische Stimmungen und nationalistische Ideologien verbreiten, daß die Bereitschaft zur Gewalt zunimmt, all das können realistische Beobachtungen sein. Gelänge es der Soziologie aber, die westliche Selbstbezüglichkeit ihrer Begriffe zu überwinden, könnte sie zu überraschenderen Ergebnissen kommen.

Immerhin gibt es offenbar durchaus neue Tendenzen auf dem Begriffsmarkt. Daß der Modernisierungsbegriff als modernisierungsbedürftig empfunden wird, war auf dem Kongreß ansatzweise erkennbar. Die Inflation des Begriffs der „Identität“ dagegen scheint sich gottlob abzuschwächen. Manche beginnen sich daran zu erinnern, daß er historisch ein äußerst reaktionärer Kampfbegriff war und bei unreflektierter Anwendung ungeahnte Folgen haben kann. Schließlich verbreitet sich das Bewußtsein, daß die nationalstaatlich verfaßte Gesellschaft, stillschweigende Grundannahme fast jeder Soziologie, nur eine unter anderen Möglichkeiten ist, gesellschaftliche Strukturen zu denken. Die „Globalisierung“ erfaßt auch die Soziologie.

Die Tendenz, Begriffe und theoretische Orientierungen nicht mehr global zu bekämpfen, die Neigung, zu differenzieren und abzuwägen, methodologische Präferenzen nicht mehr zum Anlaß von innerwissenschaftlichen Religionskriegen zu machen, hat in letzter Zeit zur Veränderung des Images der Soziologie beigetragen. Indem sie sich weitgehend entpolitisiert hat, knüpfen sich an sie auch kaum noch politische Heilserwartungen.

Die Soziologinnen und Soziologen sind also seriöser geworden, auch wenn sie sich phänotypisch noch von Wirtschaftsjuristen unterscheiden. Auch dafür konnte Halle Symbol sein. Die Stadt hat ihre Universität nicht an weit abgelegene Orte verlegt wie Berlin (West) oder Bielefeld. Die Universität liegt mitten in der Stadt, die beginnt, urban zu werden. Vielleicht wird Halle ja zu einer richtigen Universitätsstadt, und vielleicht wird die Soziologie dabei ein Medium der gesellschaftlichen Selbstreflexion.

Immerhin müßte sie dann vermeiden, die Erwartungen wieder zu hoch zu spannen. Der Vorwurf, die Sozialwissenschaften hätten die Umbrüche von 1989 nicht vorhergesehen, beruhte auf einem deterministischen Wissenschaftsbegriff, der eigentlich längst erledigt war. Daß der Vorwurf mangelnder Vorhersagefähigkeit öffentlich zu wenig zurückgewiesen wurde, erklärt sich vielleicht auch aus dem verständlichen Wunsch, Forschungsgelder zu legitimieren. Aber man hätte es auch so wissen können: Könnte es vorhergesagt werden, wäre das Neue nicht neu.

Aber etwas erklären, komplexe Sachverhalte zu entwirren, Handlungsalternativen zu formulieren, dazu ist die Soziologie sehr wohl imstande. Daß „Pfadabhängigkeit“ – die Tatsache, daß Entscheidungen zwischen Alternativen weitere Entwicklungen einschränken und ermöglichen – zu einem Schlüsselbegriff werden kann, darauf verwies vor allem Renate Mayntz (Köln). Ebenso bedeutsam wird mehr und mehr der Begriff der „Kontingenz“, der Nicht- Determiniertheit von Ereignissen und Entwicklungen.

Das Bild der Soziologie in Halle war das einer vorsichtiger, abwägender und realistischer gewordenen Disziplin. Natürlich ist sie damit auch etwas langweiliger geworden. Erhard Stölting

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen