■ Nebensachen aus Tbilissi
: Georgiens Uhren ticken wieder im Moskauer Takt

Die Dame an der Abfertigung ist eine alte Bekannte. Wie oft vertrieb sie mir die Zeit, gleichsam als Ausgleich für Abweichungen vom Flugplan. Meist für zwei, gelegentlich für zehn und mehr Stunden. Jedesmal fand sie Worte des Trostes und der Erheiterung. Auf dem Flughafen von Tbilissi läuft die Verladung noch immer nach Sowjetmodell. Ausländer gehören in ein Sondergebäude. Mittlerweile sind sie selten geworden. Unser Erscheinen bringt die Planung durcheinander. Funkkontakt zum Hauptgebäude wird hergestellt. Ist das wahr?

Ein Zöllner schleicht herein: „Zollerklärung bitte!“ – „Es gab keine Kontrolle bei der Einreise!“ Die Auskunft reicht. Vertraut mit den Gepflogenheiten, hält er es nicht für eine Ausrede. Bis zum Abflug ist noch reichlich Zeit. Das russische Reisebüro hatte in alter Gewohnheit Moskauer Zeit angegeben, nicht – wie nach der Unabhängigkeit üblich – die Ortszeit. Langsam ticken die Uhren in Georgien wieder im Moskauer Takt. Endlich, der Zubringer zum Flieger. Ein Pulk bildet sich an der Gangway. Das Privileg des Ausländers wird jetzt mit Füßen getreten. Jeder will der erste sein. Erklärungen werden ausgespuckt, die bevorzugten Zutritt rechtfertigen sollen. Andere klettern hinter der Abfertigerin, die auf Stufe fünf der Gangway thront, hinauf. Sie läßt gewähren oder schickt erbarmungslos zurück ...

Endlich an der Reihe, halte ich die Bordkarte hin. Auf Stufe zehn nochmals Zollkontrolle. Ein Neuer. Er dreht und wendet die „Deklarazija“. „Steuern bezahlen!“ Wie bitte? „Steuern!“ ... Er ruft seinen Vorgesetzten, der mit einer ebenmäßigen Schönheit neben der Treppe eine Zigarette schmaucht. Völliges Desinteresse seinerseits. Der Zöllner wird böse und entschlossener. „Gehen Sie runter!“ Er nimmt die Tasche und will sie weiterreichen. Ich greife dazwischen. Handgemenge. Gott sei Dank – der Oberzöllner schaltet sich ein, er hat aufgeraucht, alles in Ordnung.

Eine Stunde vergeht, die zweite neigt sich dem Ende. Das Flugzeug steht. Die Stewardeß kontrolliert die Tickets, dann die Bordkarten. Eine andere zählt die Sitze, die besetzten, verzählt sich und fängt nochmals an. Ein Steward wiederholt den Vorgang. Ihre Stimmen werden lauter. Noch ein Kontrollgang der Stewardeß. Fliegen wir heute, Fräulein? Sie gibt sich überrascht. Etwas Unerklärliches ist passiert, sagt ihr angespannter Gesichtsausdruck, dergleichen gab es nie. Mehr Fluggäste als Papiere! Die dritte Stunde schreitet fort. Man sollte ihr die langjährigen Erkenntnisse mitteilen, drängt der Verstand. Womöglich befinden sich Reisende mit speziellen Spezialtickets an Bord, die der Rechnungsführung entgangen sein könnten. Zumal zwei Ausländer mit von der Partie sind.

Nach drei Stunden ist es soweit. Die Vermutung bestätigt sich. Die Zahl der Passagiere in den Bordpapieren muß mit den Bodendokumenten in Kongruenz gebracht werden. Die beiden Spezspezreisenden – oder wahlweise zwei andere – werden in den Bordpapieren liquidiert. Im Falle eines Unfalls gab es sie nie, da am Boden nicht vermerkt. Ausländer lassen sich aus „höheren“ Gründen nicht mit einem Federstrich beseitigen. Jene müssen gefunden werden, deren Existenz im Falle eines Existenzverlustes vorab nicht existent war. Georgische Existenzphilosophie kommt ohne Erfahrung aus, sie hat so etwas Frisches, ja Ursprüngliches. Man möchte es nicht missen. Klaus-Helge Donath