Plötzlich vor Mitleid erschrecken

■ War es wirklich das richtige Stück am richtigen Ort zur richtigen Zeit? Hanan Snir inszenierte den „Kaufmann von Venedig“ im Deutschen Nationaltheater Weimar

Die Losung des Tages baumelt versteckt im hintersten Winkel der Gaststätte: „Jedem das Seine.“ Männer in Uniformen klacken mit ihren Reiterstiefeln aufs verstaubte Parkett. Sie fläzen sich auf Holzstühlen, schlucken Bier. Das Licht über dem Publikum erlischt, als einer der Männer einen Verschlag öffnet, aus dem Menschen hervorkriechen. Lemuren sind es, in gestreiften Hosen und Jacken.

Die Gaststube befindet sich in einem Konzentrationslager, die Männer sind SS-Offiziere, die Lemuren jüdische KZ-Häftlinge. „Der Kaufmann von Venedig“, zur Unterhaltung von SS-Offizieren im KZ-Kasino gespielt von Lagerhäftlingen – der israelische Regisseur Hanan Snir, 52, hat Shakespeare mal eben nach Buchenwald verpflanzt. An dem Wochenende, an dem 1.500 ehemalige Häftlinge in Buchenwald zum 50. Jahrestag der Befreiung ihren Schwur erneuerten, nicht eher zu ruhen, bis der letzte Nazi-Verbrecher verurteilt ist. Das richtige Stück am richtigen Ort zur richtigen Zeit?

Ein Mann in Strapsen und auf High Heels becirct die mediokre Männerbagage – so dokumentiert Snir die subkutan schwelende homosexuelle Erotik innerhalb der SS-Aristokratie. Zwei Juden und eine Jüdin zittern nackt auf der Casinobühne und intonieren „Alle Vöglein sind schon da“. Die können sie eigentlich nicht sehen, man hat ihnen Augenbinden verpaßt. „Spiel, Jude!“ dekretiert ein SS- Kommandant. Und das Stück im Stück beginnt.

Bassanio, der die reiche Erbin Porzia aufsuchen und kriegen will, bittet seinen Freund Antonio um Geld. Antonio, ein Kaufmann in SS-Uniform, besitzt nichts Bares, aber Schiffe. Und heimlich liebt er Bassanio. So nimmt er beim Juden Shylock einen Kredit auf – zu einer wahnwitzigen Kondition. Sollte er am Verfallstag des Schuldscheins zahlungsunfähig sein, darf Shylock ein Pfund Fleisch aus Antonios Körper schneiden.

Shylock fordert sein Recht, denn alle Schiffe Antonios sind untergegangen. In Snirs Shakespeare-Experiment soll der Zuschauer Mitleid entwickeln mit Antonio, dem SS-Offizier, der wegen des Vertrags mit Shylock um sein Leben fürchten muß. Und der Zuschauer soll sich zu Tode erschrecken, wie Mitleid den Falschen treffen kann. Snir sagt, ihn habe nicht so sehr die Inszenierung gereizt, vielmehr die Begegnung „zwischen mir, der ich in der zweiten Generation nach dem Holocaust geboren wurde, und Schauspielern der zweiten und dritten Generation“. Snirs Inszenierung ist jedoch der Beweis, daß deutsche Schauspieler eine Rolle nie werden spielen können: jüdische KZ-Häftlinge.

Den ganz großen dramaturgische Tabubruch hatte Snir wagen wollen, ein klinisch konstruiertes KZ-Kabinett ist dabei herausgekommen. Denn Snir gelingt es kaum, sich über das Konzept vom Spiel im Spiel zu erheben; er hat sich vielmehr in Shakespeares knotiger Tragikomödie verheddert.

Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ im KZ zu entsorgen und mögliche antisemitische Wurzeln bloßzulegen ist hoch gepokert. Eine einzige Szene nur in dreieinhalb Stunden stellt die historische Wahrheit in Frage. Shylock, der Jude in KZ-Kluft, emanzipiert sich vom realen Opfer zum Bühnentäter und giftet Antonio an. Er hasse Antonio, weil der Christ sei. Aber noch mehr haßt Shylock Antonio, weil er den Zinssatz in Venedig drückt. „Warum“, säuselt Shylock maliziös, „soll ich dir, schöner Herr, Geld leihen?“ Für ein paar Momente gehört ihm der SS-Offizier, das genießt er.

Es ist ein hochintellektuelles Planspiel, das in den Köpfen der deutschen Zuschauer aktiviert wird. Aber schon bald verläßt sich Snir einzig auf das komödiantische Element des Stücks im Stück. Dem Regisseur war wohl die eigene Idee der doppelten Ebene zu ernst, so verfolgt er sie nicht weiter und zeigt statt dessen eklektizistischen Klamauk. Der chinesische Prinz sagt „gelüstet“ statt „gerüstet“, der marokkanische läßt Hüften schwingen. Die Schauspieler sind überfordert durch ihre ambivalenten Rollen; sie flüchten in konventionelle Mimik. Als Shylocks Tochter Jessica etwa das Parkett mit einer Zahnbürste schrubbt, tut sie das, als solle sie für einen Werbespot putzen. Snir verdinglicht viel, und wenn die Schauspieler etwas mit Verve sagen, dann heben sie ihre Stimme. Nichts sonst.

Zum Epilog wird die Bühne frei gemacht von allen NS-Standarten, alles leuchtet freundlich weiß, die Anzüge der Schauspieler endlich auch, und Porzia und Bassanio zanken sich um so existentielle Dinge wie Ringe. Snirs Shakespeare-Seminar endet mit einer inflationär postulierten moralischen Attitüde: Die Schatten der Vergangenheit holen uns immer wieder ein. Noch einmal tritt Shylock auf, und stumm und betrübt observiert er das kolossal fröhliche Kaffee-und-Kuchen-Kränzchen. Thorsten Schmitz

Nächste Aufführungen am 16. und 21. April, 19.30 Uhr, im DNT, Tel. 03643/755334