Einmal Wildnis und zurück

■ Was als zivilisationskritische Reflexion in der Natur firmieren könnte, wird zum Antikultbuch: Es lebe die Freiheit der Zivilisation

Bücher, die man schon während man sie liest, bereits für einen zweiten oder dritten Durchlauf vormerkt, geraten einem bei der Schnellpreßkultur unserer Verlage heute nur noch selten in die Hände. Aurel Schmidts „Wildnis mit Notausgang“ hat alle Insignien, auch nach Beendigung der Lektüre in Greifweite zu bleiben.

Schmidt, Schriftsteller, Literaturkritiker und Redakteur des Basler Magazins hat schon in den letzten zehn Jahren nach Reisen zu Naturvölkern und in Reservate nachdenkliche, zivilisationskritische Arbeiten veröffentlicht. Diesmal ist er nach Tansania gefahren, in das Selous Game Reserve, ein 55.000 Quadratkilometer großes Wildreservat, das größte der Welt. Mit zwei Gefährten und einigen buschkundigen Führern versuchte er knapp zwei Monate lang, einfach so in der Wildnis zu leben.

Im daraus entstandenen Buch hat Schmidt nun aber genau das vermieden, was nach solchen Reisen in der Regel zu geschehen pflegt: den Aufenthalt, die Bewegungen, die Erlebnisse als eines dieser grauenhaften „Überlebenstrainings“ auszugeben, die die Yuppiewelt heute so anziehen. Stets steht für Aurel Schmidt ein einziger, großer Erlebnisraum zur Debatte: die Konfrontation des einfachen, zivilisationsfreien Lebens mit dem der Hochkultur der Städte.

Zweite Beobachtung: Er bricht auch angesichts der zweifellos erhebenden, sicher unvergeßlichen Erlebnisse nie in jenes Pathos aus, das uns eingebildete Modernitätsflüchtlinge bei Safaris oder auch nur kleinen Abstechern in unwirtliche Gegenden so gerne befällt. Im Gegenteil: je romantischer ihm Eindrücke vorkommen, umso mehr schüttelt er den Kopf. „Manchmal fragte ich mich, warum sich im Selous keine großen Gefühle ... einstellen wollten, und manchmal empfand ich den Aufenthalt wie das Absitzen der Zeit: geduldig, aber meistens ungeduldig; wie etwas, das man über sich ergehen lassen muß; eine Prüfung.“ Der Faktor Zeit wird zur Basis der Reflexion: Für die Führer, die Aurel Schmidt und seine Freunde begleiten, spielt die Zeit keine Rolle, und bald spüren auch die Fremdlinge, wie dieses Phänomen auf sie übergreift. Es gibt nichts, an dem man die Zeit messen könnte.

Hinzu kommt, daß selbst Elementares erarbeitet werden muß: „Die Anstrengungen hatten in jeder Beziehung reale Bedeutung. Jede der sonst alltäglichen Handlungen erforderte hier, unter den Bedingungen des Buschlebens, einen eigens dafür bestimmten Einsatz: Das Wasser muß geholt werden, das Feuer muß entfacht werden; das Essen muß zubereitet werden ... Jede Handlung mußte sozusagen erfunden werden: vom Nullpunkt aus.“

Entmystifizierung unserer zivilisatorischen Nahrungsaufnahme: Als die drei einen Fisch gefangen haben, einen über einen Meter langen Wels, betrachten sie den weitaufgerissenen Schlund des sterbenden Riesen mit einer Mischung aus Faszination und Beklemmung; doch „als wir am abend drei große, schöne Fischstücke auf dem Feuer brieten und verspeisten, wußten wir, wie sie auf unser klapperndes Blechgeschirr gekommen waren, und dieses Wissen verbot uns jede Idealisierung, aber verhinderte die Nachdenklichkeit nicht.“

Dennoch: Immer wieder ist sich das Grüppchen bewußt, wie sehr der moderne Mensch von den „Segnungen“ der Zivilisation nicht nur geprägt, sondern fast schon anthropologisch abhängig ist. „Auch das Wasserholen kann eine nützliche und sinnvolle Beschäftigung sein, weil sie – anders als beim Öffnen des Wasserhahns – den Wert des Wassers ins Bewußtsein ruft. Aber wenn das Wasserholen zu einer zentralen Tätigkeit des Lebens wird, aus unumgänglicher Notwendigkeit, hält es dann nicht, zusammen mit zahlreichen anderen unentbehrlichen Handreichungen, von solchen Tätigkeiten ab, die vielleicht eine größere Erfüllung vermitteln? ... Ich fand keine Antwort, aber ich beschloß in den Tagen am Rufiji, nie wieder die Annehmlichkeiten, die sich aus den täglichen Gewohnheiten und einem gewissen zivilisatorischen Komfort ergeben, zu verachten oder zu denunzieren. Ich merkte, wie sehr sie ein Garant für Freiheit sein können.“

Freiheit: Für Aurel Schmidt wird just in dieser Region, wo sich der normal zivilisationsgeplagte Mensch die Freiheit am größten vorstellt, der eigene Entfaltungsraum immer mehr eingeschränkt. Ist der moderne Mensch also verkrüppelt, oder gibt es einfach kein „Zurück zur Natur“ mehr?

Und so sind die drei – wiewohl in ihrem Erleben auch sehr unterschiedlich eingestellt und mit dem Fazit der Reise auch keineswegs einig – am Ende doch lieber wieder aus der Wildnis durch den Notausgang zurückgeschlüpft in die Welt des Abendlandes. Werner Raith

Aurel Schmidt, „Wildnis mit Notausgang. Eine Expedition“.

Benziger Verlag, Solothurn und Düsseldorf, 1994, 192 Seiten, DM 32.80