■ Der Nahe Osten nach dem jüngsten Kamikaze-Anschlag
: Friedensprozeß ohne Aussöhnung

Es gibt einen Satz, der sich immer und immer wieder wiederholen wird: Der Friedensprozeß geht weiter. Der Grund ist schlicht. Die Chefs auf beiden Seiten, Arafat und Rabin, hängen daran, sind darin verwoben. Nicht sie sind es mehr, die diesen Satz mit Leben erfüllen. Sie gestalten nicht mehr aktiv das Osloer Abkommen, sondern sie sind zu Dienern des einmal initiierten Prozesses geworden. Geben sie jetzt auf, ist es mit ihnen vorbei. Arafat müßte Palästina verlassen. Rabin die Regierung. Der große Satz ist schon lange nicht mehr Ausdruck von Stärke oder Optimismus. Er ist nur noch Ausdruck des Faktischen. Er setzt keine Phantasien mehr frei und keine Kraft, er gilt einfach nur.

Der Friedensprozeß geht weiter. Daran werden die beiden Anschläge von Sonntag nichts ändern, bei denen sechs Israelis getötet wurden sowie die beiden Attentäter selbst. Daran werden auch künftige Anschläge nichts ändern. Sie sind nicht mit einem Federstrich zu stoppen. Sie waren mit Oslo nicht zu stoppen, nicht mit dem Einzug Arafats, nicht mit der weitgehenden Räumung des Gaza-Streifens und erst recht nicht mit einem Abbruch des Prozesses. Vielleicht hören sie auf, wenn die Partner des Friedens, die Feinde, wie man sie auch nennen könnte, sich auseinanderdividiert haben.

Der Satz gilt um so mehr, als Rabin und Arafat wissen, daß ab Sommer 1996 mit immer größer werdender Wahrscheinlichkeit der rechte Likud die Wahlen gewinnen wird. Eine Partei, die von Anfang an den Prozeß torpedierte und jeden Toten als persönliches Opfer Rabins deklarierte. Bis zu den Wahlen muß so viel umgesetzt sein, daß ein Zurück auch den fanatischsten Friedensgegnern nicht mehr möglich ist.

Und weil der Satz gilt, ist auch die Zeit der großen Aufzählungen vorbei. Es lohnt nicht mehr, in Richtung Israel zu betonen, daß es versäumt hat, einen echten Frieden wirksam werden zu lassen, versäumt hat, die Gefangenen freizulassen, die besetzten Gebiete zügig zu räumen, die Voraussetzungen für Wahlen zu schaffen, Arafat mit Geld und Equipment, Logistik und Informationen zu versorgen. Ja, das alles wurde versäumt, und die versäumte Zeit ist eine der Ursachen für die Monstrositäten, die geschehen sind und weiter geschehen werden. Aber da das alles versäumt wurde, lohnt es eben auch nicht mehr, es wieder und wieder zu kritisieren.

Der Friedensprozeß ist nicht die Umsetzung des Osloer Abkommens. Andernfalls müßte man von den Versäumnissen nicht sprechen. Uri Avneri hat in seinem gestrigen Spiegel-Artikel noch einmal daran erinnert, was Oslo vorgegeben hatte. In der Präambel war noch von „historischer Aussöhnung“ die Rede. Nein, eine Aussöhnung hat nicht stattgefunden. Der Satz „Der Friedensprozeß geht weiter“ bedeutet unterdessen: Die Abgrenzung zwischen den Palästinensern und den Israelis geht weiter. Der Friedensprozeß im Nahen Osten ist keiner, der auf Annäherung zielt. Seine unvermeidliche Fortsetzung kann nur in einem fein austarierten System gegenseitiger Abgrenzung funktionieren. Würden die Träger des Friedensnobelpreises sich das noch stärker vergegenwärtigen, könnten sie wieder zu Akteuren ihres Prozesses werden. Julia Albrecht