Ein Staat wird zur Mördergrube

In Algerien werden täglich Hunderte Opfer des Bürgerkriegs zwischen militanten Islamisten und dem Regime / Wer von wem ermordet wird und warum, bleibt meist im dunkeln  ■ Aus Algier Kadir Bouabied

Fünfzigtausend Menschen sollen laut staatlichen Angaben in Algerien getötet worden sein, seit im Dezember 1991 die ersten freien Parlamentswahlen abgebrochen wurden, weil die „Islamische Heilsfront“ (FIS) den ersten Wahlgang für sich entscheiden konnte. Zwei Drittel der Opfer starben im letzten Jahr. Algerische Journalisten vermuten, daß die offiziellen Zahlen noch untertrieben sind. Zwischen 300 und 500 Menschen würden täglich in Algerien getötet, vermutet ein Kollege, der für eine regierungsnahe Zeitung arbeitet.

Äußerlich verläuft die Frontlinie zwischen dem Regime und militanten Islamisten. Die Opfer sind jedoch häufig Unbeteiligte: einfache Arbeiter; Frauen, die sich den islamischen Bekleidungsvorschriften nicht beugen wollen; Kinder, die trotz „Verbot“ der Islamisten zur Schule gehen; Intellektuelle und Journalisten, die gegen die Vermischung von Politik und Religion argumentieren.

Nicht alle dieser Opfer gehen auf das Konto der Islamisten. Auch das Regime und Teile der Militärs haben ein Interesse daran, die Bevölkerung in Schrecken zu versetzen. In einer Atmosphäre der Angst würden es sich AlgerierInnen gut überlegen, Islamisten zu unterstützen, denken einige Militärs. Ihre Strategie ist einfach: Wenn es nicht gelingt, die islamistischen „Fische“ zu fangen, dann muß eben das ganze Meer ausgetrocknet werden.

Der Kampf wird ohne Gnade geführt. Es werden keine Gefangenen gemacht: Wer von Militärs oder islamistischen Trupps festgenommen wird, muß mit der sofortigen Hinrichtung rechnen. In den von Islamisten zu „befreiten Gebieten“ erklärten Regionen, setzt das Militär bei Angriffen Kampfflugzeuge, schwere Artillerie und Napalm ein.

Algeriens Geographie nutzt den militanten Islamisten. Über zwei Millionen Quadratkilometer des Landes sind zerklüftete Bergketten und dichte Wälder – ein ideales Rückzugsgebiet für eine Guerilla. Die Armee versucht, den Islamisten diesen Vorteil zu nehmen, indem sie bereits ein Drittel der Wälder abgeholzt hat. In ländlichen Gebieten, in denen die Islamisten starken Zulauf haben, richten sich die Angriffe der Militärs auch gegen die Zivilbevölkerung. Tausende von Verwandten und Sympathisanten sollen verhaftet worden sein. Frauen und Kinder islamistischer Untergrundkämpfer dienen den Militärs so als Geiseln. Dörfer, die als Hochburgen der Islamisten galten, wurden dem Erdboden gleichgemacht. Augenzeugen berichten, im letzten Monat habe die Armee in der Region Ain Duflah, 150 Kilometer südwestlich von Algier, zahlreiche Siedlungen dem Erdboden gleichgemacht.

Islamisten berichten auch von 300 Moscheen, die in den vergangenen drei Jahren von Militärs zerstört wurden. Nach Darstellung des Regimes wurden sie jedoch von Islamisten errichtet oder dienten „Terroristen“ als Unterschlupf.

Zu den Abschreckungsmethoden der Militärs gehört es, Leichen oder aufgespießte Köpfe in Gebieten zurückzulassen, die als Hochburgen der Islamisten gelten. In Constantine und Blida soll es das Militär seinen Gegnern bewußt ermöglicht haben, einzelne Stadtteile zu „befreien“. Spitzel in der Bevölkerung hätten das Militär anschließend darüber informiert, welche Personen führende Positionen bei den Islamisten innehatten. So konnten sie gezielt überfallen und getötet werden.

Das militante islamistische Lager besteht aus zwei Flügeln: der militärische Arm der FIS „Islamische Armee des Heils“ (AIS) und die „Bewaffnete Islamische Gruppe“ (GIA). Strategie der AIS ist es, militärische Ziele und Einzelpersonen zu attackieren, die ihrer Ansicht nach für Angriffe auf Islamisten verantwortlich sind. In der Ideologie der GIA gehören dagegen alle Nicht-Islamisten zum Feindeslager. Mitarbeiter der Staatsverwaltung, Beamte und Lehrer dienten einem gottlosen Regime und sind daher potentielle Angriffsziele. Die GIA ist für die meisten Anschläge auf Intellektuelle, Journalisten und Ausländer verantwortlich. Ihre Opfer seien entweder Feinde des Islam oder stärkten durch ihre bloße Anwesenheit im Land das Regime, lautet die Begründung für bestialische Morde. Viele AlgerierInnen bezweifeln jedoch, daß Islamisten hinter allen ihnen zugeschriebenen Bluttaten stecken. Sie machen „verschiedene Machtzentren innerhalb des Regimes“ für Anschläge auch auf Intellektuelle verantwortlich. Ein Journalist weist darauf hin, daß mehrere seiner 30 angeblich von Islamisten ermordeten Berufskollegen über Korruption und Machtkämpfe innerhalb des Regimes schrieben. Einige der Ermordeten unterhielten Kontakte zu gemäßigten islamistischen Gruppen.

Algerische Oppositionelle unterstützen Vermutungen, wonach eine unbestimmte Anzahl von Menschen geheimen Kriegen innerhalb des Regimes zum Opfer gefallen sind. Zu den Verantwortlichen soll eine Gruppe um den ehemaligen Staatspräsidenten Chadli Benjedid gehören. Er wurde von den Generälen zum Rücktritt gezwungen, weil er versucht hatte, hinter ihrem Rücken ein Abkommen mit der FIS zu schließen. Trotz seines Abdankens hat Benjedid noch Verbündete im Staatsapparat. Nach Meinung einiger Oppositioneller sollen diese Leute hinter Attentaten auf Offiziere und Beamte stecken. Andere Beobachter geben Generälen und Politikern die Schuld für Anschläge auch auf völlig Unbeteiligte. Die Auftraggeber fürchteten, bei einer politischen Lösung ihre Macht zu verlieren. Ein Rechtsanwalt vermutet auch, daß im Schatten des Bürgerkriegs geschäftliche Konflikte mit der Waffe ausgetragen werden. Der Mord an einem südkoreanischen Vertreter der Autofirma „Daewoo“ sei von Geschäftsleuten in Auftrag gegeben worden, die mit rivalisierenden französischen Firmen zusammenarbeiteten.