Tschetschenien zerstört, Sieg vertagt

■ Augenzeugenberichte über Massaker der russischen Armee an Zivilisten / Kein Zugang für das Rote Kreuz

Moskau (taz) – Mit unverminderter Härte wütet die russische Armee in Tschetschenien. Nach dem Fall der Städte Schali und Gudermes konzentriert sich das Flächenbombardement nun auf die Umgebung der westlichen Kleinstadt Samaschki. Nach Angaben der Armeeführung hat sie zwei Drittel des feindlichen Territoriums bereits unter Kontrolle. Die Freischärler des tschetschenischen Präsidenten Dudajew beherrschen dagegen noch den Landstrich südlich der Hauptstadt Grosny.

In Samaschki müssen nach Berichten flüchtender Bewohner die Russen schonungslos alles vernichtet haben, was ihnen im Weg stand. Weder Journalisten noch Mitarbeiter des Roten Kreuzes werden seit drei Tagen zum Schauplatz des Schreckens vorgelassen. Doch der Protest der Hilfsorganisation scheint die Führung in Moskau nicht zu stören, da die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit sich seit langem vom Kriegsgebiet abgewandt hat. Umso unerbittlicher geht die Armee vor, denn – so Offiziere im Feld – bis zu den Feierlichkeiten anläßlich des 50. Jahrestages des Sieges über den Hitlerfaschismus am 9.Mai möchte die oberste Armeeführung das Ende des Krieges verkünden.

Flüchtlinge aus Samaschki berichteten, russische Einheiten hätten sich regelrecht ausgetobt. Eine 32jährige Frau, die ihren siebenjährigen Sohn verloren hat, erzählte unter Tränen: „Sie fuhren in Panzerwagen die Straße auf und ab und fingen an, die Häuser niederzubrennen“. Andere berichteten, die Soldaten hätten vor allem die älteren Einwohner „hingerichtet“. Alle Männer seien festgenommen oder erschossen worden. Zu Beginn der Kriegshandlungen im Dezember vergangenen Jahres hatten gerade die lokalen Politiker in Samaschki und Atschkoi-Martan mit den russischen Militärs verhandelt, um wenigstens die zivile Bevölkerung vor dem Genozid zu bewahren. Beim Anmarsch auf Grosny blieben die Siedlungen zunächst unangetastet. Nunmehr sieht es so aus, als solle kein Ort vom Schrecken verschont bleiben.

Im militärischen Hauptquartier der Russen in Mosdok hieß es bereits am Wochenende: „Die föderalen Truppen haben heute die Operation in der Region Samaschki beendet. Über 130 Kämpfer Dudajews wurden getötet, 124 gefangengenommen.“ Eine siebzigjährige Frau, die sich barfuß auf die Flucht machte, berichtet dagegen von Hunderten von toten Zivilisten, die auf den Straßen lägen. Freischärler Dudajews hätten den Ort schon längst verlassen.

Beweise liegen nicht vor, doch decken sich derartige Aussagen mit Kommentaren russischer Offiziere vor Ort, die allerdings anonym bleiben wollten. „Wir müssen die Zivilbevölkerung opfern, um unser eigenes Leben zu retten.“ Dort wo Stärke ist, brauche man keinen Verstand, das sei die leitende Doktrin. „Die Verluste des Gegners sind minimal. Unser Sieg ist wie der Horizont sichtbar, aber gleichzeitig außer Reichweite.“

Im Fernsehmagazin „Itogi“ gestand ein Generalmajor ein, der Krieg sei noch lange nicht gewonnen. Soldaten berichteten, selbst nach Grosny kehrten Dudajews Scharfschützen zurück. 2.000 russische Soldaten sollen nach Angaben eines Regierungsvertreters inzwischen gefallen sein. Ein Vertreter der von Moskau eingesetzten Marionettenverwaltung kommentierte: „Im Grunde genommen sind wir alle schon potentiell tot und werden bei der erstbesten Gelegenheit physisch vernichtet.“ Klaus-Helge Donath