Sprung in der Zeit und im Raum

■ Sind alle RussInnen kriminell? Haben Fremde keine Chance bei den Deutschen? Ein Gespräch über Vorurteile mit Tatjana Forner, der Vorsitzenden des russischen Kulturinstituts Club Dialog

Der Club Dialog wurde bereits zu DDR-Zeiten, 1988, als Interessenvertretung sowjetischer OstberlinerInnen gegründet. Diskussionen mit VertreterInnen von Wirtschaft und Wissenschaft sollten auch ein wenig Perestroika in die stocksteife DDR bringen. Heute ist der Club im Haus der russischen Föderation soziale Beratungsstelle und Kulturinstitut in einem. Er hilft den russischsprechenden Neu-BerlinerInnen bei Behördengängen und bietet Informationsveranstaltungen an, etwa über Rußlanddeutsche. Jede Woche flimmern russische Filme übers Video, und russische DozentInnen halten Vorlesungen über Malerei und Musikgeschichte.

Programmatisch wird sowohl die Kultur der exilierten RussInnen als auch der Dialog mit Deutschen gepflegt. Für Gesprächsreihen „Die Deutschen und wir“ und „Wer ist fremd in Deutschland“ gewann man Prominente aus Ost und West: Andrej Bitov, Daniil Granin, Lew Kopelew und Valentin Falin berichteten über literarische Reflexionen und alltägliche Erfahrungen mit russischer Realität. Von deutschen Lebensläufen erzählten Christa Wolf, Stephan Hermlin, Walter Jens und Klaus von Bismarck.

30.000 ehemalige SowjetbürgerInnen aus über 40 Nationen leben heute in Berlin – von MillionärInnen bis BettlerInnen. Vor der Wende waren es 3.500 in Ost- und 4.000 in West-Berlin. 1990 flammte der Nationalitätenkonflikt in der Sowjetunion wieder auf. Um ihre Glaubensmitglieder vor Diskriminierung zu schützen, lud sie die Ostberliner Gemeinde nach Berlin ein. 10.000 russische Juden und Jüdinnen leben heute hier. Und seit 1992 nimmt Berlin auch Rußland- Deutsche mit einer Quote von 6.000 pro Jahr auf.

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taz: Die Medien berichten fast täglich über die „Russenmafia“. Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

Tatjana Forner: Es bedeutet, daß wir mit Klischees und Vorurteilen zu kämpfen haben. Denn diese Realität zu leugnen wäre falsch, aber sich ausschließlich unter diesem Aspekt mit Rußland zu beschäftigen ist ebenso falsch. Es gibt nicht nur Mafia, Prostitution, Drogenhandel. Aber die Russen werden zur Zeit als potentielle Verbrecher betrachtet. Natürlich kommen Illegale nach Berlin. Und sie sind schnelle Beute für kriminelle Organisationen, weil sie erpreßbar sind. Wenn man die Situation jedoch mit den oft romantisierten zwanziger Jahren vergleicht, ist das momentan noch gar nichts. Damals lebten 360.000 in Berlin, die meisten illegal. So gesehen hat man noch Möglichkeiten zur Entwicklung...

Was fehlt Ihnen denn am meisten in der Berichterstattung?

Ich finde die Schlagwortpresse fatal. „Illegal“ wird etwa sofort gleichgesetzt mit „kriminell“. Obwohl das Illegalenfeld vom abgelaufenen Touristenvisum bis zum eingeschleusten Verbrecher reicht. Der differenzierte Blick fehlt mir. Die Beutekunst-Debatte zeigt ganz deutlich, daß alte Klischees wiedererwachen. Da wird beispielsweise die russischen Auffassung, daß diese Kunstwerke als Wiedergutmachung für beschädigte russische Kulturgüter betrachtet werden, kommentiert mit: „Die Räuber haben immer Ausreden.“ Das ist schlimm. Über positive Momente des russisch-deutschen Verhältnisses schreibt man jedoch weniger. Der DAAD zum Beispiel holt Künstler aus Rußland hierher, die drüben fast verhungern. Aber mir ist bewußt, daß gerade die derzeitige Rußland-Politik (Tschetschenien-Konflikt, wirtschaftliche Unberechenbarkeit, plumpe Machtspiele) viel zum negativen Image beiträgt.

Wie sehen Sie das Verhältnis Deutsche/RussInnen in Berlin?

In Deutschland entsteht ein neues Feindbild, das sind die Russen, und ich denke, das wurzelt noch in der Psychologie des „Dritten Reichs“. Die Russen bringen nur Negatives hierher. Und wenn dort etwas zusammenbricht, dann kommen „Horden“, und alles hier geht kaputt. Diese Angst vorm Osten führt zu einem undifferenzierten Bild. Kompliziert zu denken ist aber Aufgabe unserer Zeit.

Und das Verhältnis RussInnen/ Deutsche?

Auf russischer Seite gibt es entweder sehr negative Vorstellungen von Deutschen oder sehr idealisierte. Im Laufe des Integrationsprozesses ändert sich das Deutschlandbild. Am Anfang werden die Leute, die etwa aus Kasachstan kommen, die Wasserleitung anbeten, aber man gewöhnt sich sehr schnell daran. Die Begeisterung wird abgelöst von einer Depression. Das ist die zweite Phase. Einige passen sich an, andere fühlen sich weiter isoliert. Als Fremder hat man meist keine Chance bei den Deutschen.

Von multikultureller Gesellschaft also keine Spur?

Die Deutschen sind zur Zeit sehr mit sich selbst beschäftigt. Auch wenn sie beispielsweise über Vergewaltigungsverbrechen im Zweiten Weltkrieg diskutieren, sprechen sie nur über ihre eigenen Leiden. Wenn irgendwo eine Katastrophe passiert, wird berichtet, wie viele Deutsche Opfer waren. Die Sozialarbeiter, die unsere Aussiedler betreuen, meckern beispielsweise: Die kommen hierher, sitzen da und machen nichts. Aber sich vorzustellen, daß diese Menschen einen Sprung in der Zeit und im Raum machen, wie ihnen zumute ist, wenn er kein einziges Signal dechiffrieren kann, das fällt vielen offenbar schwer. Gerade Jugendliche reagieren auf Nichtakzeptanz mit Gegenwehr. 18jährige Aussiedler sagen oft, sie hassen die Deutschen, obwohl sie ja selbst Deutsche sind und zum Beispiel Rainer Müller heißen.

Fühlen sich die GeorgierInnen oder LitauerInnen in Ihrem Club nicht russisch dominiert?

Auf der Ebene der Kultur gibt es keine Feindschaften, die ist international. Unser Club will das Gemeinsame: Kultur, Sprache und Geschichte betonen. Darauf aufbauend, können wir auch unsere Unterschiede klarer sehen. Vom georgischen Pianisten bis zum armenischen Filmregisseur – bei uns werden alle vorgestellt. Das ist übrigens ein wenig konträr zu der Politik des Hauses der Russischen Föderation.

Finden Sie Deutschland vorbildhaft in der Demokratieentwicklung?

In Rußland gibt es ein ganz anderes Zeit- und Raumverständnis. Amerika – neue Welt, in Rußland gibt es die auf eine Art auch. Amerikaner finden in Rußland viel schneller Orientierung. Die Deutschen glauben, alles per Gesetz, Bestimmung und Zusatzbestimmung regeln zu können, das greift in Rußland überhaupt nicht. Da geht es spontan und willkürlich zu.

50 Jahre Kriegsende – wie begeht Club Dialog dies?

Am 8. Mai laden wir russische und deutsche Kriegsteilnehmer ein, um nachzudenken: Wo war ich an diesem Tag, welche Hoffnung hatte ich damals, hat sie sich realisiert? In folgenden Gesprächen soll es um Themen wie etwa Vergewaltigung in Ostpommern gehen. Oft wird bei dieser Diskussion vergessen, daß dieses Leid durch deutsche Männer 1941–44 in Rußland vorbereitet wurde. Die Mischung russischer und deutscher Zeitzeugen soll die subjektiven Wahrheiten in den Zusammenhang stellen. Interview: Kirsten Longin

Club Dialog e.V., Friedrichstraße 176–179 (3. Etage), Mitte