Point 'n' Click
: Lippensynchrones Gebrabbel

■ Digitale Schnipsel als Adventure-Puzzle: Woodruff and the Schnibble of Azimuth

Woodruff, der strubbelblonde Held des neusten Computer-Comics der französischen Game- Designerin Muriel Tramis, sieht aus wie eine Mischung aus Martin Semmelrogge und Wischmop. Er ist kein digitales Alter ego, das auf Mausklick pariert: Befehls- Input quittiert er durch Grimassenschneiden, Zungerausstrecken, Vogelzeigen! Wunderbar sind auch seine gelegentlichen süffisanten Kommentare: „Sie bestehen wirklich darauf, daß ich diesen Müllsack einsammle?“

Die Bemerkung ist deshalb witzig, weil man in einem Adventure-Spiel prinzipiell alles, was nicht niet- und nagelfest ist, einsacken muß. Noch so obskurer Krempel – ob Fingerprothese oder Meteoritensplitter – kann nämlich zur Lösung der die Nahtstellen der Fabel markierenden Rätselaufgaben verwendet werden. Nächtelang grübelt man über existentielle Probleme nach: Wie erringe ich die Aufmerksamkeit des sittenstrengen Papageis, der wie paralysiert auf ein Pin-up- Foto glotzt? Kein weiterer Erzählschub wird angestoßen, solange ein solches Puzzle nicht geknackt ist. Man eiert immer weiter durch die Kulissen der Handlung, erlebt wieder und wieder dieselbe Endlosschleifen-Routine – eine Welt absurder Vorgänge an der Oberfläche, ein Labyrinth mit – im Warholschen Sinne – „nichts dahinter“.

Weist man Woodruff an, sich aus einem Sack voll Federn zu bedienen, wird ein Fenster eingeblendet, das ihn als weißhaarigen Greis im Lehnstuhl zeigt, wie er mit brüchiger Stimme von seinem Abenteuer erzählt: „Da nahm ich mir eine Handvoll Federn ... Das waren gute Zeiten!“

Im Intro ist Woodruff noch ein unschuldiger Knirps, der friedlich im Labor seines Papis, des genialen Wissenschaftlers Professor Azimuth, spielt. Da stürmt ein lokaler Obermotz mit Gestapo- Schergen die gute Stube, entführt Papi, der Junior gerade noch im Wäschekorb verstecken kann. Aus diesem muß der Arme hilflos mitansehen, wie sein Lieblingsteddy über den Haufen geballert wird. Das ist gemein beziehungsweise „interaktiver Humor im Stil von ,Tex Avery‘“ (Klappentext). Dank Alterungsbeschleuniger reift Klein Woodruff prompt zum Halbstarken-Pumuckl im Punk- Outfit. Das Abenteuer kann beginnen. Nur worum geht's?

Die Geschichte spielt ein paar Jahrhunderte nach dem letzten Atomkrieg. Ort: eine turmartig angelegte Stadt irgendwo im Endzeit-Dschungel. Unten wohnen die Kleinen, oben die Bösen. Es herrscht der perfekte Überwachungsstaat, komplett mit Großem Bruder auf allen Kabelfernsehkanälen, kafkaeskem Verwaltungsapparat und rigider Steuerdiktatur. Unhaltbare Zustände in the year 2525 – auch was die Unterdrückung der Buzuks, einer überaus friedfertigen Rasse gerüsselter Mutanten betrifft.

Hier kann nur noch der Schnibble helfen, ein mystischer Gegenstand, von dem zwar keiner weiß, wie er aussieht, der aber als eine Art sozialutopischer Gral funktionieren soll. Papi Azimuth hat ihn jüngst im Rahmen seiner Studien zu einer Ontologie der Zeit entdeckt, weshalb er dem herrschenden Regime als gefährlicher Dissident gilt.

Auf der Suche nach Papi und Schnibble durchstreift Woodruff ein aus vierzig Stationen bestehendes Mini-Universum – Plätze, Straßen und Gebäude der Turmstadt. Die als bunte Comic-Graphiken vorliegenden Szenarien sind prinzipiell starr, sehen aus wie eingefrorene Filmeinstellungen; die skurrilen Figuren, denen Woodruff hier begegnet, erwachen erst per Mausklick zu pfiffig animiertem Leben. Immerhin quasseln rund fünfzig Cartoon- Charaktere perfekt lippensynchron in der deutschen Ausgabe auf ihn ein. Es gibt keine eingeblendeten Texte mehr, sogar die bis dato üblichen Sprechblasen als letztes Liesmich-Futter entfallen.

Nicht alles, was da zuckt, zappelt, blubbert und brabbelt ist schon per se Virtual Reality. Die in den Bildern abrufbaren Zeichentricksequenzen wirken gerade im Kontrast zur Unbewegtheit der hochauflösenden Graphiken. Man darf sich jederzeit sattsehen an reizvollen Perspektiven und liebevoll inszenierten Details. Slapstick-Klamauk inklusive, aber doch so spärlich eingestreut, daß die Effekte sich nicht gegenseitig ausradieren. An einer Stelle unternimmt Woodruff sogar einen Kurzabstecher in den Cyberspace, komplett mit „Doom“-artiger Oberfläche. Sein ironischer Kommentar nach ein paar Runden Monstermatschen: „Hören Sie auf mit diesen Idiotenspielen!“

Gut, daß in Woodruffs Welt die Bundesprüfstelle bereits integriert ist. Die Damen und Herren eines „Clubs der guten Sitten“ haben es sich zur Aufgabe gemacht, anstößige Stellen in Produkten des zeitgenössischen Kulturschaffens zu zensieren. Ihr dringlichstes Anliegen aber ist es, „völlig perverse Computerspiele“ wie das vorliegende zu indizieren. Nicht zuletzt wegen der unappetitlich langen Schuppenschwänze der Buzuk-Mutanten. Und der Präsident des Moralapostelvereins trägt heimlich Strapse ... Ulrich Hölzer

„Woodruff and the Schnibble of Azimuth“ (Coktel Vision/Sierra)

Systemvoraussetzungen: mind. 486er/33 MHz, CD-ROM, Soundkarte, SVGA, Maus, Windows 3.1, Preis: ca. 120 DM