Der Staat ohne Eigenschaften

Eine Bilanz von 100 Tagen konservativer Revolution im US-Kongreß: Viel heiße Luft und ein Gingrich-Kult, dessen Ende schon abzusehen ist  ■ Von Andrea Böhm

Präsident will er noch nicht werden, aber er gebärdet sich wie einer. Newt Gingrich, Vorsitzender des US-Repräsentantenhauses, schloß die ersten hundert Tage seiner „Revolution“ mit einer Fernsehansprache im Stile des Staats- und Regierungschefs ab. Das demonstriert zum einen den Hang des Republikaners zu bombastischen Gesten, zum anderen symbolisiert es die Neuverteilung der Rollen, die nach dem Sieg der Republikaner bei den Kongreßwahlen im November 1994 stattfand. Wie ein Regierungskabinett bestimmen Gingrich und seine Gefolgsleute die politische Tagesordnung der USA, während im Weißen Haus ein Präsident sitzt, der es auf eine Kraftprobe nicht ankommen läßt. Bill Clinton begnügt sich bis auf weiteres damit, ausländische Staatsgäste zu empfangen und ansonsten nach einem vermarktbaren Profil für seinen nächsten Wahlkampf zu suchen.

Kommentatoren verkünden bereits das Ende der Ära der „starken Präsidenten“, die in den 30er Jahren von Franklin D. Roosevelt eingeleitet wurde. Wenn aber an den heute zu Ende gehenden ersten hundert Tagen der rechten Revolution irgend etwas revolutionär war, dann die Unverfrorenheit, mit der „business as usual“ betrieben wurde. Da sitzen Lobbyisten der Privatwirtschaft in den Vorzimmern republikanischer Kongreßabgeordneter, um ihnen die Eliminierung von Umwelt- und Arbeitsschutzrichtlinien zu diktieren; da applaudiert die Waffenlobby, weil sie sich wieder auf eine parlamentarische Mehrheit gegen Schußwaffenkontrolle verlassen kann; da freuen sich die Reichen über bevorstehende Steuererleichterungen.

Die ersten hundert Tage der „Newtoids“, wie die Gingrich-Jünger im US-Repräsentantenhaus genannt werden, haben also deutliche Spuren hinterlassen – wenn auch meist nicht in Form von Gesetzen. Viele Bestandteile ihres „Vertrages mit Amerika“ wird der Senat modifizieren, in einigen Fällen hat der Präsident gar mit einem Veto gedroht. Doch dank Gingrichs maßgeblichem Einfluß haben die Republikaner im Kongreß zwei Stützpfeiler festgeklopft, die unter Ronald Reagan eingeschlagen worden waren: den Prozeß der Deregulierung und die Reduktion der politischen Debatte auf das Moralisieren.

Wohlfahrt als System der Neidproduktion

Vater Staat wurde in diesen hundert Tagen zur Persona non grata, die aus dem Leben des Bürgers weitgehend zu verschwinden hat – auch aus dem Leben derer, die dringend auf ihn angewiesen sind, zum Beispiel Sozialhilfeempfänger. Die Benennung der zugrunde liegenden ökonomischen Probleme wird durch eine Diskussion über Werte und Sitten ersetzt, deren Niveau manchmal alle Tiefenrekorde schlägt. So formulierte Gingrich unlängst in einem Beitrag für die Zeitschrift Newsweek die Optionen staatlicher Politik gegenüber schwarzen Jugendlichen in Großstadtghettos so: Entweder hat man ein System, in dem sie lernen können, „wie man wohlhabend und erfolgreich wird“; oder ein System, das ihnen „Neid und Feindseligkeit“ einimpft und Schmarotzertum und Diebstahl fördert. Mit letzterem ist natürlich der „Wohlfahrtsstaat“ gemeint, mit ersterem die „Chancengesellschaft“ eines Newt Gingrich.

Dabei bilden die Republikaner im US-Kongreß nicht die Avantgarde, als die sie sich gerne ausgeben. Sie manifestieren lediglich auf Bundesebene, was auf regionaler und kommunaler Ebene in den USA längst praktiziert wird: der Abbau staatlicher Leistungen, die ersetzt werden durch Moralpredigten über die Verantwortung des einzelnen für sein Schicksal und drastische Sanktionen für Regelverletzer. Städte wie Los Angeles oder New York werden mittlerweile nach dem Vorbild von Wirtschaftskonzernen regiert. Bundesstaaten wie Wisconsin oder Massachussetts profilieren sich als Vorreiter eines Sozialhilfesystems, das an das 19. Jahrhundert erinnert; in Alabama werden Gefängnisinsassen wieder Fußketten angelegt; der Gouverneur von New York hat unlängst das Gesetz zur Wiedereinführung der Todesstrafe unterzeichnet – in einer feierlichen Zeremonie, als hätte er gerade die Obdachlosigkeit abgeschafft.

Dabei wäre es eigentlich dringend nötig, nicht nur über die Reform des Sozialhilfesystems nachzudenken, sondern auch über die Rolle des Staates im allgemeinen. Genau das hatte Bill Clinton versucht, als er 1993 sein Amt als Präsident antrat. Der Staat als sozialer Dienstleistungsbetrieb für die Bürger beim Übergang in die globalisierte Ökonomie des 21. Jahrhunderts – so zeichnete er seine Vision im Wahlkampf. Gescheitert ist er nicht nur an der Obstruktionspolitik der Opposition, sondern auch an seinem notorischen Opportunismus und seiner Neigung, Politik als Performance zu begreifen, in der jeder Schritt und jede Äußerung in Zielgruppen vor- und in Meinungsumfragen nachgetestet wird.

Damit ist noch keineswegs gesagt, daß den Republikanern bei den Präsidentschaftswahlen 1996 der „Grand Slam einer Mehrheit in beiden Parlamentskammern sowie des Einzugs ihres Kandidaten ins Weiße Haus gelingt. Denn trotz aller pseudorevolutionärer Einheit steht den Republikanern die Zerreißprobe zwischen dem moderaten und dem christlich-konservativen Flügel im Kampf um die Präsidentschaftskandidatur erst noch bevor. Gingrichs zusammengestoppeltes Weltbild kann nur eine begrenzte Zeit darüber hinwegtäuschen, daß seiner Partei ein kohärentes ideologisches Fundament ebenso fehlt wie den Demokraten.

Darüber hinaus regt sich in der Gesellschaft zunehmend Unmut gegen die Deregulierungs- und Kürzungsorgien im Kongreß. Auch wenn er gerne das Gegenteil suggeriert: Newt Gingrich hat nie ein eindeutiges Wählermandat für seine „Revolution“ erteilt bekommen. Im November 1994 gaben gerade mal ein Drittel der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Gingrichs Höhenflug könnte abrupt enden, wenn immer mehr Amerikaner merken, daß ein paar Steuergeschenke keine Antwort sind auf eine Welt sinkender Löhne, ungewisser Gesundheits- und Altersversorgung und unsicherer Arbeitsplätze. Möglicherweise richten sich dann wieder erwartungsvolle Augen auf Vater Staat.