Literarisches Cruising

Auch Kleist schon ein selbstbewußter Schwuler? Heinrich Deterings Studie über das „Tabu der Homosexualität“ und seine literarischen Folgen  ■ Von Rolf Spinnler

Wissenschaft lebt seit dem Beginn der Neuzeit vom Tabubruch. Sich durch kirchliche oder weltliche Autoritäten weder Fragen noch Antworten verbieten zu lassen – das ist seit Bacon, Galilei und Descartes der Impuls, der sie antreibt. Unablässig schreitet sie voran, dringt ein in jene Terra incognita, die bisher noch durch Unwissenheit, Verbote und Tabus verdunkelt war – und webt so mit an der großen Erzählung vom Fortschritt der Menschheit. Aber ihr Gesetz ist auch ihr Fluch: Jeder junge Wissenschaftler, der sich in seiner Zunft einen Namen machen will, kann nur Aufmerksamkeit erregen, wenn er dieses Eroberungsprojekt weiterführt und das bisher Dunkle und Unerklärte in den gesicherten Bestand akademischen Wissens eingegliedert hat. Der Wille zum Wissen ist ein Wille zur Macht.

Ganz besonders scheint es dem Forscherdrang ins Herz der unaufgeklärten Finsternis jener Bereich angetan zu haben, der mit Begriffen wie „Leidenschaft“, „Begehren“, „Erotik“ und „Sexualität“ abgesteckt wird. Da gibt es offenbar noch Schätze zu heben, zu katalogisieren und im Museum auszustellen. Ja, man kann sich sehr mutig vorkommen, wenn man als Literaturwissenschaftler eine Habilitationsschrift zum Thema „Homosexualität und Literatur“ vorlegt: wieder ein Tabu gebrochen, wieder eine Forschungslücke geschlossen. Und ist es – aus der Perspektive jener „Geschichte vom Fortschritt“ – nicht zu begrüßen, daß heute schwule Studenten ihre Magister- und Doktorarbeiten über ein Thema abfassen können, das vor noch gar nicht langer Zeit in der Öffentlichkeit betretenes Schweigen hervorgerufen hätte?

Kommt darauf an. Stellen wir einmal die Frage zurück, ob jene Erzählung in ihrer Schlichtheit zutrifft, die da lautet: Gestern war Homosexualität noch ein Tabu – aber dank des heroischen Kampfes der Schwulenbewegung ist die Emanzipation schwuler Männer in den letzten 25 Jahren beträchtlich vorangekommen. Jedenfalls gibt es seit etwa 15 Jahren an amerikanischen Universitäten „gay studies“, in den Niederlanden heißen sie „Homostudien“, und auch in Deutschland hat sich – an der Uni Siegen – ein Forscherkreis samt Zeitschrift zum Thema „Homosexualität und Literatur“ etabliert. Aus Göttingen ist jetzt eine Habilitation zu vermelden: Der 1959 geborene Heinrich Detering (er ist inzwischen Professor in München) hat sich die Venia legendi mit einer Studie erstritten, die der „literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann“ gilt. Mit dem Tabu ist die Homosexualität – oder, wie Detering lieber sagt, die „Homoerotik“ – gemeint; und gezeigt werden soll auf 450 langen Seiten (von denen allein 100 den Anmerkungen gehören), „mit welchen ästhetischen Konsequenzen ein literarischer Text auf ihre Tabuisierung reagiert“. Also doch: Tabus können auch produktiv sein. Detering spricht von „Spracherweiterung durch Sprechverbot“ und führt dazu den Begriff der „Camouflage“ ein; soll ein Text „zugleich öffentlichkeitsfähig und dennoch für den primären Adressaten noch als homoerotischer entzifferbar sein, muß er doppelbödig konzipiert werden. Literarische „Camouflage“ heißt: „intentionale Differenz zwischen (unanstößigem) Oberflächentext und (homoerotischem) Subtext“. Mit dieser Leseperspektive stürzt er sich dann auf das Werk von sieben Autoren vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert: Winckelmann, Platen, Kleist, Chamisso, Andersen, Bang und Thomas Mann. Das hört sich vielversprechend an. Zumal der Autor über einen strategischen Vorteil verfügt: Er hat Skandinavistik studiert, kann uns deshalb mit den dänischen Kontroversen um Hans Christian Andersens Homosexualität vertraut machen und auf unveröffentlichte Texte zurückgreifen, die er im Nachlaß des Dichters in Odense und Kopenhagen aufgestöbert hat.

Aber je weiter man sich durch das Buch kämpft, desto mehr verspürt man ein zunächst diffuses Unbehagen, dann Langeweile und Ärger. Da ist von „Homoerotik“ die Rede – in einer Sprache, die jede Erotik vermissen läßt. Ist das der Preis dafür, daß schwule Themen habilitationsfähig werden? Wo die literarischen Texte alle Register des Erotischen ziehen: den elegant verspielten, schmachtenden, leidenschaftlich-werbenden, frivolen oder melancholischen Tonfall des Verliebten vorführen, handelt Detering sie in jenem schwerfälligen Jargon ab, der an unseren Universitäten als Ausweis der Wissenschaftlichkeit gilt. Daß es auch anders geht, kann man an Gerhard Märles Buch über Klaus und Thomas Mann („Männerweiblichkeit“) sehen – freilich in seiner essayistischen Leichtigkeit eine seltene Ausnahme unter den akademischen Publikationen. Und Märle hat in seiner nahezu romanhaften Inszenierung des Vater- Sohn-Koflikts in der Familie Mann auch interpretatorisch etwas gewagt: hat einige sehr spekulative Thesen zu einer homosexuellen Ästhetik, ja sogar einer „schwulen Theologie“ in den Ring geworfen. Deterings Mut zum Risiko dagegen erschöpft sich im Begriff der Camouflage – fortan praktiziert er eine sehr traditionelle, asketische Philologie, die deutlich das Vorbild seines Lehrers Albrecht Schöne erkennen läßt. Schöne, der Doyen der deutschen Goethe-Forschung, ist vor allem durch seine Goethe-Edition im „Deutschen Klassiker Verlag“ berühmt geworden – ein Meister der Kommentare und Fußnoten. So liest sich denn Deterings Buch wie ein Kleist, der endlich Goethes Segen gefunden hat. Aber wäre das noch Kleist?

Gerade das Kleist-Kapitel zeigt exemplarisch die Schwächen von Deterings Interpretationsverfahren. Man muß dabei wissen, daß auch in den „gay studies“ der aus anderen Geisteswissenschaften hinlänglich bekannte deutsch- französische Streit zwischen Hermeneutikern und Dekonstruktivisten tobt. Fragen die einen – und auf ihre Seite hat sich Detering geschlagen – nach dem, was der Autor mit seinen Büchern sagen (oder verschweigen) wollte, so sehen die anderen den literarischen Text als eine Art Schlachtfeld, auf dem widerstreitende Begierden miteinander Krieg führen. Ich halte es für problematisch, aus Kleist einen selbstbewußten Schwulen machen zu wollen, der sich lediglich die literarische Tarnkappe übergezogen hat. Das Aufregende an seinem Werk ist doch gerade, daß da keine selbstsichere „schwule Identität“ dahintersteht; daß es vielmehr ständig zum Schauplatz wird, auf dem der Kampf zwischen Macho und Softie, zwischen den Geschlechterrollen, den zwei Seelen in der Männerbrust in aller Härte ausgetragen wird. Kleist ist so aktuell, weil er zeigt, daß „sexuelle Identität“ nichts selbstzufrieden in sich Ruhendes ist, sondern die konfliktreiche Dramatisierung und Ausbalancierung von Gegensätzen – die letztlich wohl nur in der Literatur gelingen kann.

Im Gegensatz zu Detering glaube ich deshalb, daß es sehr wohl so etwas wie eine „homosexuelle“ Ästhetik“ gibt, ohne daß es dazu des symmetrischen Pendants einer „heterosexuellen Ästhetik“ bedürfte. Das Postulieren von Symmetrien gehört in die Tradition des liberalen Äquivalenzdenkens. Aber das Verhältnis von Schwulen und Heteros ist nicht äquivalent. Der heterosexuelle Mann hat Kunst nicht nötig, um sich seiner sexuellen Identität zu vergewissern. Klaus Mann sagte es einmal so: Er wird Kinder zeugen – ich nur Bücher. Schwule Männer sind auf ästhetische Selbstinszenierungen angewiesen – nicht (oder nicht nur) weil ihr Begehren verboten ist, sondern weil ihre Geschlechterrolle nicht eindeutig ist. Wenn Detering homosexuelle Camouflage allein aufs Verbot zurückführen will, kann er manches nicht erklären: etwa, warum sich Schwule auch dann maskieren – als Ledermann oder Dandy –, wenn sie in ihrer Subkultur unter sich sind. Oder warum man beim „cruising“ im Park oder im Opernfoyer Signale aussenden muß, die nur Eingeweihte verstehen – weil nur diese kleine Minderheit unter den anwesenden Männern für einen Pas de deux zu haben ist. Die Liebe von Winckelmann zum Freiherrn von Berg, von Andersens Seejungfrau zu ihrem Märchenprinzen oder von Tonio Kröger zu Hans Hansen scheitert nicht deshalb, weil sie verboten ist, sondern weil sie unerwidert bleibt – der begehrte Mann ist hetero. Aber so was soll ja auch unter Schwulen vorkommen: Am Morgen nach der gemeinsamen Nacht schaut der eine ganz verliebt aus der Wäsche und träumt von einer lang andauernden Romanze – während der andere denkt: Hoffentlich seh' ich den Kerl nie wieder! Das sind die Dramen, die das Leben so schreibt – und die in den Büchern wiederkehren.

Womit wir wieder bei jener Geschichte von Verbot, Tabubruch und Emanzipation wären, wie sie Detering der Schwulenbewegung nacherzählt. Aber vielleicht gehört ja auch diese Geschichte zu jenen „großen Erzählungen“, mit denen man – folgt man Lyotard – in der Postmoderne nicht mehr so recht weiterkommt. Zu abstrakt, zu eindimensional, zu totalisierend – so lautet der Vorwurf. Wenn Detering schreibt: „Von den biblischen Sanktionsdrohungen [...] bis in unsere Zeit hinein ist in Frankreich wie in Großbritannien, in Spanien wie Italien, in Deutschland wie Skandinavien Homosexualität juristischen Strafen und vielfältigsten sozialen Sanktionierungen ausgesetzt gewesen“ – stimmt das denn so pauschal? Immerhin waren homosexuelle Beziehungen unter Erwachsenen in Ländern, in denen der Code Napoleon galt (also in Frankreich oder Italien), seit dem Anfang des 19. Jahrhunderts nicht mehr strafbar. Und im „heidnischen Katholizismus“ (Camille Paglia) des Mittelmeerraumes herrschte zumindest in der Alltagskultur jene „archaische Toleranz“ (Pasolini) gegenüber dem Sexuellen, von der man im kühlen protestantischen Norden nur träumen konnte. Tatsächlich auch träumte: von Winckelmann bis Platen, von Tonio Kröger bis Gustav von Aschenbach lockten die warmen Zonen des Südens puritanismusgeschädigte Sexualtouristen mit erregenden „Abenteuern des Fleisches“. Es fällt auf, daß die sieben Autoren, die Detering für sein Buch ausgewählt hat, alle Protestanten sind: fünf Deutsche und zwei Dänen. Und – der Autor möge mir verzeihen – entsprechend protestantisch und puritanisch ist das Buch auch ausgefallen. Mir fällt da Camille Paglias Polemik gegen das „Vergnügen an presbyterianischem Sex“ ein: wie da alles, was an Trieb und Leidenschaft dunkel, abgründig, gefährlich, ja zerstörerisch sein kann, ins Harmlose umgebogen und Eros, der schwarze Gott, logozentrisch domestiziert wird. Hans Mayer, in seinem Klassiker „Außenseiter“ von 1975, wußte da noch mehr als Detering: daß es nämlich zu Gleichschaltung und Camouflage für die Homosexuellen im 19. Jahrhundert eine Alternative gab – die Provokation, den Skandal. Eine Begierde, die „contra naturam“ war, wie der scholastische Terminus lautete – das war doch immerhin was: ein Stachel im fetten Fleisch des „juste milieu“. Die französische Literatur von de Sade über Rimbaud und Verlaine bis zu Proust und Genet hatte vom Katholizismus eine Bilderwelt geerbt, die mit ihren durchbohrten und verklärten Leibern immer schon erotisch aufgeladen war. Diese Bilder mußte man nur noch in ein neues Licht rücken – und schwule Ikonen waren geboren.

Aber die Fixierung aufs Verbot hat noch einen weiteren Nachteil. Sie suggeriert, wenn das Tabu erst gefallen sei, werde alles, alles gut. Aber vielleicht fangen dann die Probleme erst richtig an, wird der Blick erst jetzt frei auf die ganz gewöhnliche Unordnung und Tragik der Liebe. So gesehen ist Tonio Kröger nicht der letzte Repräsentant einer Kultur des Verbots, der sein Begehren maskieren muß, sondern ein Vorläufer jenes Jungen aus André Téchinés Film „Wilde Herzen“, der sich hoffnungslos in seinen Mitschüler verliebt – und ein einziges Mal mit ihm schläft. Solche „kleinen“ Erzählungen sind es, die wir heute von schwulen Schriftstellern und Literaturwissenschaftlern erwarten.

Heinrich Detering: „Das offene Geheimnis. Zur literarischen Produktivität eines Tabus von Winckelmann bis zu Thomas Mann“. Wallstein-Verlag, Göttingen, 460 Seiten, geb., 68 DM