Die Halbfertigen

Cathleen Schines Roman und Michael Kleebergs Novelle über erotische Irrungen, Wirrungen und Lösungen  ■ Von Jörg Lau

Gibt es im Rezensionswesen etwas Öderes und Lästigeres als die rituelle Pfennigfuchser-Kritik an der Leistung der Übersetzer? Hier aber muß sie sein, gleich vorweg und auf die ganz kleinliche Tour. Cathleen Schines Roman „Rameaus Nichte“ ist (unter anderem) ein „campus novel“ mit starken humoristischen Passagen, darunter einige hinreißende Parodien auf die spezielle Art von feistem Small talk, mit dem Leute wie du und ich in den achtziger Jahren in akademischen Kreisen ihre Claims abzustecken pflegten: „Und wissen Sie, eine solche Beurteilung“, heißt es da zunächst ganz korrekt im pseudointellektuellen Soziolekt, „eine solche Kritik ist so patriarchalisch, so überaus logozentrisch.“ Aber dann: „,Margaret, Margaret, Literatur ist, ist was?‘ rief Jean Claude. ,Die Anhäufung und Verteilung von Kulturkapital! [...] Gut? Schlecht? Pah! Das Konzept der Aufklärung ist tot! Kehrt die Hierarchie der Bewertung um! [...] Lang lebe die Befreiung des Bezeichnenden!‘“ Hieße es hier „kulturelles Kapital“ (Pierre Bourdieu) und „Signifikant“ (Roland Derrida/Jacques Barthes), die „lingua franca“ des ambitionierten akademischen Schnacks würde so kenntlich, wie Cathleen Schine sie darzustellen vermag. An Fahrlässigkeit grenzt es, wenn die Übersetzer uns einmal eine „Neue Schule“ servieren. (Da diese Institution dem „Brooklyn College“ gegenübergestellt wird, darf man wohl die „New School for Social Research“ dahinter vermuten. Warum nicht „New School“?)

Der Roman enthält so viele brillante Witze über das Milieu, dem auch die potentiellen Rezensenten entstammen, daß man um seinen Erfolg hierzulande ernsthaft besorgt sein muß: In ihrem dekonstruktivistischen Restaurant, blödelt die Heldin Margaret Nathan einmal, würde es ein Gericht namens „boeuf sous rature“ geben. Auf der Speisekarte wäre „boeuf“ durchgestrichen, der Kellner würde das Rindfleisch nicht servieren, sondern vom Teller wegnehmen und damit die différance, den endlosen Aufschub im Prozeß der Repräsentation ...

Dennoch ist dies kein frivoles, also im Kern unernstes Buch. Es erzählt von der Lebens- und Liebeskrise, in die Margaret Nathan gerät, nachdem sie – eine eher lustlose Studentin – mit ihrer Dissertation überraschenden Erfolg hat. (Die Geschichte dieses Erfolges wiederum ist eine hübsche kleine Satire auf die Mode der gender studies.) Margaret, die ihren plötzlichen Ruhm mit dem Schwindelgefühl der Hochstaplerin erlebt, gerät in eine erotische Verwirrung, die sie immer weiter fort von ihrem Mann Edward, einem englischen Professor, treibt, und dann der Reihe nach einem französischen Geschäftsmann, ihrer feministischen Freundin, schließlich einem Zahnarzt in die Arme. Ihre Verwirrung wird beschleunigt durch einen anonymen Roman, den sie – ein Nachklapp ihrer Dissertation – aus dem Französischen übersetzt – „Rameaus Nichte“, ein Text, der im Stile der Underground-Literatur des 18. Jahrhunderts unter dem Deckmantel eines philosophischen Dialogs Porno und Erkenntnistheorie zugleich ist. Da die Auflösung der Konfusion auf einer überraschenden Wendung beruht, kann hier nicht viel mehr verraten werden, als daß Cathleen Schine wohl die seltsamste Verteidigung der ehelichen Liebe geschrieben hat, seitdem dieses Thema kampflos den Kitschproduzenten anheimfiel. Kein Zweifel, sie ist eine Puritanerin. Daß sie die Erziehung des Herzens ihrer Heldin aber ganz ohne Puritanismus betreibt, macht die Sache auch für diejenigen erträglich, denen der Erfolg nicht sehr plausibel vorkommt. Sei's drum, am Ende treiben es die Eheleute in Edwards Arbeitszimmer: „Er war ihre kühne Hypothese. Sie konnte ihn nicht widerlegen. ,Gründlich‘, flüsterte sie. Das war eine gründliche kritische Erörterung. Eine scharfsinnige, unerbittliche Überprüfung.“ Ein sehr glattes Happy-End, womöglich. Aber es wird durch die Ironie, mit der Cathleen Schine reichlich gesegnet ist, gerettet. Und wen es ganz und gar kaltläßt, der oder die ist wohl lange nicht mehr auf diesem Felde widerlegt worden. Der oder die soll bitteschön glücklich sein – und ansonsten die Klappe halten.

Eine Novelle, so weiß man aus dem Deutschunterricht seligen Andenkens, schildert eine „unerhörte Begebenheit“. An diesem Kriterium gemessen, darf man zweifeln, ob „Barfuß“ von Michael Kleeberg den Gattungsnamen zu Recht trägt: Arthur K., Mitinhaber einer Pariser Werbeagentur, gerät beim arglosen Spiel mit dem Minitel-Computerservice an eine Sado- Kontaktagentur und sein Leben in der Folge zunehmend außer Kontrolle. Unerhört ist das nun gerade nicht. Eine literarische Neuerscheinung ohne S/M-Stellen ist heute so selten wie ein Zapping- Abend vor der Kiste ohne freundliche Nachbarn in Lackledermontur, die sich unverkrampft zu ihren Neigungen bekennen. Und so wäre das neue Buch von Michael Kleeberg denn auch ohne jeden Belang, ein dem Zeitgeist hoffnungslos hinterherhechelnder Nachzügler – wäre da nicht dieser seltsam selbstgewisse Ton des Erzählers, dem man sich kaum entziehen kann. Der scheint zu wissen, wohin er mit uns will; gehen wir mal ein paar Schritte mit.

Nicht mehr als ein, zwei Seiten braucht Kleeberg, um seinen Helden aufzubauen, eine der zahllosen überindividualisierten und doch ungreifbaren Gestalten, die die Angestelltenwelt der großen Städte bevölkern. K. hat fast widerwillig Karriere gemacht, arbeitet mit Überengagement in dem nur halb geliebten Job und träumt von einem anderen Leben (als Schriftsteller) – eine Situation, unter der er gelegentlich leidet, aber für das Drama des verkannten Genies scheint ihm wiederum die Antriebskraft zu fehlen. Er funktioniert perfekt zu Hause und im Büro, aber er ist noch nicht ganz zur reifen, hellwachen, bürgerlichen Persönlichkeit ausgebacken, und etwas an diesem Halbfertigsein scheint ihm zu gefallen. Er ist 30. Er hat Affären. Er liebt seine Frau, jedenfalls glaubt er, es zu tun.

Dann begegnet er Daniel, seiner elektronischen Bekanntschaft. So wie er vorher pausenweise in Gedanken mit den Koordinaten seiner Identität gespielt hat, läßt er sich nun auf Daniels S/M-Spiel ein. Sein Erkennungszeichen beim Rendezvous: Er erscheint barfuß. Er hat sich dieses Zeichen selber erwählt, eine Reminiszenz an eine verzweifelte jugendliche Liebesgeschichte mit einem losen Mädchen, das barfuß zu gehen gewohnt war – eine Demonstration ihrer Freiheit, Bindungslosigkeit, Verantwortungslosigkeit.

Auf solches seltsame Begehren steht – und damit sei diesmal die Pointe verraten – in der Welt dieses Autors keine geringere Strafe als der Tod. Was als freiwillige Feminisierung Arthur K.s beginnt, endet in der totalen Abhängigkeit von Daniel, der seinen Sklaven allen erdenklichen Erniedrigungen aussetzt und ihm zuletzt alles nimmt – erst die bürgerliche Identität samt Frau, Kind, Beruf, Wohnung und Ausweis, dann, im Einverständnis mit dem Opferlamm selber – in einer Art Kreuzigungsszene das Leben.

Warum muß Arthur K. sterben? Als abschreckendes Beispiel, das zeigt, wohin geheime Wünsche nach absoluter Freiheit führen können, wenn man nur einmal den Deckel vom Topf nimmt? Ach was. Kleeberg interessiert keine solche Moral. Ich vermute erstens, er mußte seinen Helden aus erzähltechnischen Gründen loswerden. Einfacher als seinen weiteren Weg zu erzählen – zurück ins bürgerliche Leben? weiter in den S/M- Sub? –, ist es allemal, ihn umlegen zu lassen.

Eine zweite Vermutung: Der Autor opfert seinen Helden, nachdem er ihn ausgepreßt hat, um uns seine totale Macht spüren zu lassen. Jenes narzißtische Hochgefühl, von dem der sadistische Daniel spricht – „Freiheit, verantwortungslos, jenseits der Konventionen, eine Freiheit, der ausschließlich an ihrer Erfüllung gelegen ist und die bereit ist, dafür alles zu opfern“ –, ist auch die Freiheit des Autors, der seinem Machtwillen freien Lauf läßt und über Leichen geht, um dafür von uns Lesern bestaunt zu werden. Seht her, ich kann mit ihm machen, was ich will! Nur geht das Kalkül nicht auf. Man möchte mit Kleebergs Helden gegen seinen Autor aufstehen. Soll er zehnmal behaupten, „ein Lächeln, das alles gutheißt, sich mit allem einverstanden erklärt, umspielte die Lippen des Toten“ – wir glauben kein Wort davon. Ein Mord ist geschehen, und es bleibt dabei: der Hauptverdächtige heißt Michael Kleeberg. Das Motiv: Schreibblockade in Tateinheit mit auktorialen Allmachtsphantasien.

Zur simultanen Inflation des S/M-Genres in Gegenwartsliteratur und TV liefert übrigens Robert Gernhardt in einem neuen Gedicht einen schönen Hinweis. Da sagt das lyrische Ich: „Ich bewundere die Perversen, denn sie wissen, was sie wollen.“ Ja, die wissen, was sie wollen, deshalb werden sie überall ausgestellt, deshalb starrt alle Welt sie offenen Mundes an.

Aber es wäre doch schön, könnte man hin und wieder auch etwas über unseresgleichen, das wachsende Heer der erotisch Ratlosen, lesen. Den Frauen die Ehe, den Männern der Tod – das kann doch wohl nicht alles sein, was die neuere Literatur in Liebesdingen für uns bereithält.

Cathleen Schine: „Rameaus Nichte“. Roman. Aus dem Amerikanischen von Giovanni Bandini und Ditte König. Carl Hanser Verlag, 324 Seiten, geb., 36 DM

Michael Kleeberg: „Barfuß“. Novelle. Kiepenheuer & Witsch Verlag, 149 Seiten, geb., 29,90 DM