Angst vor den düsteren Prophezeiungen des Gurus

■ In Tokio herrscht helle Aufregung, weil Guru Shoko Asahara für heute großes Unheil versprochen hat / 30.000 Polizisten durchsuchten gestern 130 Sektengebäude

Tokio (taz) – Die Börse stürzte und die Wirtschaft ächzte, doch das ließ Millionen gestern kalt. Trotzdem war eine öffentliche Aufregung im Land spürbar, die die pragmatische Nation sonst selten ergreift. Deutlichstes Anzeichen dafür waren die Entscheidungen einiger Warenhausketten, ihre Läden in Tokio heute nicht zu öffnen. Derartige Notmaßnahmen, die immerhin sichere Gewinne verderben, hatte man zuletzt vor sechs Jahren nach dem Tod von Kaiser Hirohito beobachtet.

Grund für die Aufregung war diesmal nicht der Kaiser, sondern einer, der sich als solcher gerne aufführt: Guru Shoko Asahara, Führer der inzwischen weltweit bekannten japanischen Sekte Aum Shinrikyo („Erhabene Wahrheit“). Mitglieder von Aum Shinrikyo stehen unter dem täglich dringender werdenden Verdacht, das Nervengas Sarin hergestellt zu haben, dessen Gebrauch bei den Giftgasanschlägen in der Tokioter U-Bahn im März elf Tote und fünftausend Verletzte gefordert hatte. Annähernd hundert Mitglieder der Sekte wurden bislang festgenommen, doch über zehntausend befinden sich noch auf freiem Fuß.

Mußte man die Vorhersage also ernstnehmen, die Guru Asahara vor einigen Tagen seinen Anhängern predigte: daß nämlich heute, am 15. April, in Japan etwas Fürchterliches geschieht? Auf den Umschlägen von Asaharas neuestem Buch steht immerhin geschrieben, daß der Guru das Erdbeben von Kobe und den Höhenflug des Yens rechtzeitig voraussagte. Jedenfalls rieten sich manche Tokioter im privaten Kreis, heute lieber nicht zum Einkaufen in die Stadt zu fahren. Zumal man der Polizei nicht das rechte Vertrauen schenkt.

Die Verkehrskontrollen, die gestern im ganzen Land durchgeführt wurden, erinnerten die Japaner gestern an Zeiten des Linksterrorismus in den frühen siebziger Jahren. 30.000 japanische Polizisten führten gestern die bislang größte Razzia in den Einrichtungen der Sekte seit den Giftgasanschlägen durch. Fast die Hälfte aller japanischen Polizisten, hunderttausend Beamte sollen heute im Einsatz sein.

Doch offenbar fehlen den Behörden noch immer die entscheidenden Beweismaterialien für den Beleg einer Giftgasproduktion in den Sekteneinrichtungen. Andererseits haben die Polizisten genug Hilfsgerät für denkbare Kriegsvorrichtungen beschlagnahmt, daß der Phantasie keine Grenzen gesetzt sind. Täglich kommt Neues ans Licht: zuletzt eine kleine Waffenfabrik und ein ehemaliger Mafia-Gangster, der im Dienst der Sekte Waffengeschäfte erledigte. Ein bißchen Aufregung allerseits ist da beinahe verständlich. Georg Blume